Die am 24. Mai 2023 von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Kleinanlegerstrategie (Retail Investment Strategy – RIS) könnte die Versicherungslandschaft in Europa grundlegend verändern. Im Raum stehen (vorerst teilweise) Verbote von Provisionen durch Produktanbieter an Vermittler ("Anreize") sowie Preisregulierungsmechanismen ("Benchmarking") für die Produktanbieter. Das alles soll aus Sicht der EU-Kommission für vorteilhaftere Versicherungsleistungen und mehr Vertrauen der Konsumenten sorgen – insbesondere wenn es um Versicherungsanlageprodukte geht. Doch Experten warnen vor unüberdachten Maßnahmen von oben herab. In der Realität könnte es – wenn durch Vergütungsverbote ein historisch gewachsener Vermittler-Kunden-Markt zusammenbricht – zu einer Unterversorgung der Konsumenten kommen.

In die Kritiker reiht sich der Wirtschaftswissenschaftler Karel Van Hulle ein, der als ehemaliger Referatsleiter in der EU-Kommission unter anderem für den Versicherungsmarkt zuständig war. Zwar seien viele der in der RIS vorgesehenen Maßnahmen zu begrüßen, etwa für mehr Transparenz und Finanzbildung, zum Schutz vor irreführender Vermarktung sowie für bessere berufliche Qualifikationen von Finanzberatern. Zur Durchsetzung von EU-weiten Provisionsverboten zeigt sich der Ökonom mit Blick auf das Recht jedoch skeptisch.

Konformität mit Maastricht-Vertrag fraglich
Zu hinterfragen sei, ob ein Eingriff der EU in Vergütungsregeln für Finanz- und Versicherungsvermittler nicht den im Maastricht-Vertrag verankerten Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zuwiderlaufe. Diese spezifischen Maastricht-Regeln (Artikel 5 Abs. 3 und 4 EUV) hätten genau den Grund, "die EU daran zu hindern, Angelegenheiten zu regulieren, die besser von den Mitgliedsstaaten geregelt werden könnten", so Van Hulle. Eine Vereinheitlichung solcher Vorschriften in einem Markt mit sehr verschiedenen Vergütungs- und Vermittlermodellen könne sich sehr verschieden auswirken.

Unklar sei auch, warum die EU in diesem Fall eine Vereinheitlichung anstrebt, anstatt – wie bei der Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD – weiter den Ansatz der Mindestharmonisierung zu verfolgen. Die EU-Staaten können bereits auf Basis der IDD Vergütungsarten verbieten oder einschränken. Es handle sich um Standards, die die einzelnen Mitgliedsstaaten unter Berücksichtigung der jeweils vorherrschenden Marktstruktur besser setzen könnten.

Die RIS-Forderungen
Der auf dem Tisch liegende Vorschlag zur RIS verlangt momentan ein Verbot von Provisionen im Execution-Only-Geschäft. Sprich Vermittler dürfen von Produktherstellern im Vertrieb von Versicherungsanlageprodukten (IBIP) keine Anreize entgegennehmen, wenn keine Beratung vorausgeht. Gleichzeitig steht jedoch auch ein generelles Verbot solcher Vergütungen im Raum, denn die Kommission kündigt in der RIS an, dass sie diese Frage innerhalb von drei Jahren evaluieren will.  

In der RIS wird auch das "Value for Money"-Prinzip (VfM) eingeführt, an dem die EU-Aufsichtsbehörden EIOPA und ESMA schon länger arbeiten. VfM entwickle das bereits aus der IDD bekannte Konzept der Produktaufsicht und -governance (Product Oversight and Governance – POG) weiter, so Van Hulle. Dahinter steht die Erkenntnis, "dass einige Produkte aufgrund der mit ihnen verbundenen Kosten und Gebühren nur einen geringen Nutzen für die Verbraucher bieten". VfM könne jedoch nicht nur über Benchmarks für Kosten und Gebühren gelöst werden. Im Versicherungswesen gehe es darum, die richtigen Produkte zu entwickeln, die bestehende Lücken im Versicherungsschutz beseitigen können. Es sei fraglich, ob dies mit Benchmarks und Anreizverboten gelinge und ob dies rechtlich mit den EU-Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit vereinbar sei, fasst Van Hulle seine Bedenken zusammen.

Auch, dass die Nichtlebensversicherungsprodukte, die keine Anlagekomponente beinhalten, in einer "Kleinanlegerstrategie" mitreguliert werden, ist aus seiner Sicht nicht unbedingt glücklich. In ihrer Folgenabschätzung gehe die EU sehr stark auf die Anlageprodukte ein, wogegen sie sich mit dem Aspekt der Versicherung in solchen Produkten weniger beschäftige. Es werde nicht ausreichend erklärt, warum die Vorschriften auch im Bereich Nichtleben oder in der klassischen (nicht fondsgebundenen) Lebensversicherung angewendet werden müssten. (eml)


Die Wirtschaftskammer Österreich stellt die Analyse im Onlineangebot des Fachverbands der Versicherungsmakler zum PDF-Download (externer Link) bereit.