BGH-Urteil. Im amtlichen Leitsatz des BGH-Urteils vom 15. April 2010 heißt es, dass der nicht bankmäßig gebundene, also freie Anlageberater seinen Kunden nicht ungefragt über eine von ihm bei der empfohlenen Anlage erwartete Provision aufzuklären hat, wenn der Kunde selbst keine Provision zahlt und offen ein Agio oder Kosten für die Eigenkapitalbeschaffung ausgewiesen werden, aus denen ihrerseits die Vertriebsprovisionen aufgebracht werden. Der III. Zivilsenat des BGH sieht dieses Urteil als Abgrenzung zu den BGH-Urteilen des XI. Zivilsenates insbesondere vom 19. Dezember 2006, XI ZR 56/05 und vom 20. Januar 2009, XI ZR 510/07.

Offenlegungspflichten. In den Urteilen des XI. Zivilsenates ging es um Offenlegungspflichten von Banken. Diese müssten auch ungefragt Bankkunden über Rückvergütungen aufklären. Hierbei spielt es keine Rolle, ob es sich um Finanzinstrumente handelt, bei denen zusätzlich die Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes zu beachten sind, oder um sonstige Produkte (im Urteil vom 20. Januar 2009 ging es konkret um die Beteiligung an einem geschlossenen Medienfonds).

Begründung. Das jüngste BGH-Urteil vom III. Zivilsenat wurde in ersten Reaktionen als ein Urteil für den freien Vertrieb gewürdigt. Die Sache ist jedoch wesentlich differenzierter zu analysieren. Insgesamt scheint der BGH nicht mehr zwischen Zuwendungen in Form von Provisionen oder Sondervorteilen, insbesondere Retrozessionen und Kickbacks, differenzieren zu wollen. Im amtlichen Leitsatz ist von Provisionszuflüssen die Rede, während in der Urteilsbegründung dieser Begriff mit verdeckten Rückvergütungen, Ausgabeaufschlägen oder Verwaltungsgebühren gleichgesetzt wird. Das im Einklang mit der Rechtsprechung des XI. Zivilsenates auch für den III. Zivilsenat entscheidende Kriterium ist die Gefahr eines Interessenkonfliktes beim Vertrieb über den Bankschalter, wenn Vergütungen, die der Kunde über die Bank an die Produktgesellschaft zahlt, hinter seinem Rücken an die beratende Bank umsatzabhängig zurückfließen. Beim freien Vertrieb soll dies anders sein.

Differenzierung. Die entscheidenden Unterschiede zwischen Bankenvertrieb und freiem Vertrieb sieht der BGH dabei in Folgendem: Das Verhältnis zwischen Bank und Kunde sei regelmäßig durch eine dauerhafte Beziehung geprägt (a), der Kunde zahle Bankgebühren/Kontoführungsgebühr/Depotgebühr usw. (b) und der Kunde wisse nichts von Rückvergütungen und etwaigen Interessenkonflikten (c). Demgegenüber sei das Verhältnis zwischen freiem Vertrieb und Kunde nicht durch diese Dauerbeziehung geprägt. Soweit der Kunde dem freien Berater nichts bezahle, müsse er auch davon ausgehen, dass der freie Berater nicht unentgeltlich arbeiten könne, mithin sein Geld vom Produktgeber erhält. Interessenkonflikte seien deshalb „nur“ durch unterschiedliche Provisionshöhen bedingt, die in verschiedenen Produkten enthalten sind. Wenn der Kunde Interesse daran habe, die genaue Höhe der Provision erfahren zu wollen, könne er ja fragen. Unter diesen Prämissen kommt der III. Zivilsenat zu seiner Aussage, dass vom freien Berater nicht erwartet werden könne, ungefragt über die Provisionen sämtlicher Produkte, die ein Berater in seinem Portefeuille hat, zu informieren.

Fremdes Vertriebsbild. Betrachtet man sich diese Argumente genauer, wird sehr schnell deutlich, dass der BGH von einem Vertriebsbild ausgeht, das dem alltäglichen Geschehensablauf fremd ist. Auch der freie Berater strebt eine Dauerbeziehung an. Dies gilt insbesondere für die Berater, die sich die ganzheitliche Beratung des Kunden auf ihre Fahnen geschrieben haben (die Beklagte des BGH-Verfahrens warb zur maßgeblichen Zeit noch mit dem Slogan „Ihr unabhängiger Finanzoptimierer“). Auch wenn der Kunde dem freien Berater nichts bezahlt, ist ihm – was repräsentative Umfragen belegen – im Regelfall nicht bewusst, dass Agio und Eigenkapitalvermittlungsprovisionen zusammen Vergütungsbestandteile sind, die – kumuliert – für den freien Berater vorgesehen sind. Auch der BGH spricht sowohl im Leitsatz als auch in den Entscheidungsgründen von „Agio oder Kosten für die Eigenkapitalbeschaffung“ und von „Verwaltungsgebühren oder Ausgabeaufschlägen“. An anderer Stelle nennt der BGH das Beispiel, dass aus dem Agio „auch“ Vertriebsprovisionen gezahlt werden, an denen der Anlageberater partizipiert.

Fehlende Grundlage. Möglicherweise war diesbezüglich in den Tatsacheninstanzen einfach zu wenig vorgetragen worden, um dem BGH den auch im freien Vertrieb bestehenden Interessenkonflikt vor Augen zu führen. Beispielsweise scheint das Thema „Incentives“ nicht angesprochen worden zu sein und auch nicht die typische Konstellation, dass der freie Berater regelmäßig umsatzabhängige Boni erhält und dass Incentives und Boni starke Anreize bieten, bestimmte Produkte zu präferieren.

Interessenskonflikt. Die Gefahr des Interessenkonfliktes ist mithin auch beim freien Vertrieb sehr groß. Das jüngste BGH-Urteil zur Provisionsoffenlegung deshalb als „Erfolg des freien Vertriebs“ feiern zu wollen, erscheint vorschnell. Wenn der BGH – wie offenbar geschehen – nicht mehr zwischen Provisionen und sonstigen Zuwendungen unterscheidet, brechen die Argumente, auf die der BGH entscheidend abstellt, in Kenntnis der tatsächlichen Situation des Vertriebsalltags ganz schnell zusammen.

Fazit. Was den Bankenvertrieb anbelangt, ist das Urteil nicht nur eine Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung, sondern bedeutet eine nochmalige Verschärfung. Und angesichts des Diskussionsentwurfes aus dem Finanzministerium dürfte die Offenlegungspflicht in Bälde kraft Gesetzes gegeben sein, wie dies bei zahlreichen anderen Finanzprodukten, zum Beispiel bei Versicherungen und Wertpapieren, schon heute zum Beratungs- und Vertriebsalltag gehört. Das BGH-Urteil kann mithin keineswegs als Entwarnung für den freien Vertrieb gewertet werden. Wer in diesem Punkt Haftungssicherheit erreichen will, sollte auch ungefragt die Karten auf den Tisch legen, sprich die Höhe der Provision und möglicher weiterer Vorteile offenbaren.

Ulrich Nastold ist Rechtsanwalt bei der Kanzlei Rechtsanwälte Klumpe, Schroeder + Partner GbR in Köln.