Die Deutsche Vermögensberatung (DVAG) beschreibt ihr Karrieresystem als fair, transparent und leistungsorientiert. "Jede Vermögensberaterin und jeder Vermögensberater haben gleiche Chancen und Perspektiven, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft", heißt es auf einer Website des Frankfurter Finanzvertriebs. "Es ist einzig und allein die Leistung, die den Aufstieg, das Einkommen und das Vorankommen auf der Karriereleiter bestimmt." FONDS professionell ONLINE liegen Informationen vor, die zeigen, dass das in dieser Absolutheit nicht stimmt.

Die Redaktion weiß von zwei Fällen aus Deutschland, in denen Direktionsleitern Anspruch auf zusätzliche Provisionen und Vergünstigungen für Leistungen zugesprochen wurden, die sie nicht erbracht haben. Einer dieser Fälle ist besonders gut dokumentiert, der des langjährigen Direktionsleiters L. aus Hessen. Ob es weitere, ähnlich gelagerte Konstellationen gibt, ist offen. Die DVAG äußert sich dazu nicht. L. lässt über die DVAG ausrichten, keine Stellung nehmen zu wollen.

Blick ins Karrieresystem
Wer nachvollziehen möchte, wie es zu den Zusatzvergütungen kam, muss zumindest ein wenig ins Karrieresystem der DVAG eintauchen, wie es im Vermögensberater-Vertrag in Deutschland festgeschrieben ist. Wer hauptberuflich bei dem Finanzvertrieb einsteigt, beginnt als Agenturleiter. Erwirtschaftet er einen gewissen Provisionsumsatz und wirbt neue Vermögensberater an, baut also seine eigene "Struktur" auf, klettert er auf der Karriereleiter nach oben. Er wird zunächst zum Leiter einer Regionalgeschäftsstelle, später einer Geschäftsstelle und einer Hauptgeschäftsstelle. Der Vermittler holt dann nicht mehr nur selbst neue Vermögensberater an Bord, sondern die von ihm rekrutierten DVAG-Vertreter werben ihrerseits Nachwuchs an. So geht es weiter nach oben, bis nach zwei Regionaldirektionsstufen schließlich das Ziel naht: die eigene Direktion.

Es reicht nicht, Stufe um Stufe mehr Vermögensberater zu betreuen. Auch der Gesamtumsatz, also die Summe der innerhalb der Struktur erwirtschafteten Provisionen, muss steigen. Parallel dazu nehmen die Verdienstmöglichkeiten zu, und zwar deutlich.

Die DVAG rechnet in Einheiten ab, eine Einheit entspricht zehn Euro Grundprovision. Einem Direktionsleiter stehen je Einheit seiner Struktur 140 Prozent dieser Summe zu, also 14 Euro. Dieser Betrag rieselt gewissermaßen die Karrierestufen nach unten, auf jeder Ebene bleibt etwas hängen. Wurde die Police beispielsweise von einem Agenturleiter vermittelt, erhält dieser neun Euro je Einheit. Die restlichen fünf Euro werden auf die oberen Stufen verteilt. Mindestens 80 Cent je Einheit, also knapp sechs Prozent der Provision, streicht der Direktionsleiter ein – egal, wer aus seiner Struktur das Finanzprodukt letztlich verkauft hat. Über diesen Mechanismus sollen die Strukturoberen für die Anwerbung, Ausbildung und Betreuung der neuen Vermittler honoriert werden.

Vergütung ohne weitere Gegenleistung
Doch was passiert, wenn ein Regionaldirektionsleiter so erfolgreich ist, dass er selbst die Direktionsstufe erreicht? Dann rückt er aus der alten Struktur heraus und steht künftig neben seinem einstigen Förderer. Diesen macht das einerseits stolz: Er ist jetzt kein gewöhnlicher Direktionsleiter mehr, sondern steigt in der DVAG-internen Hierarchie weiter nach oben und darf sich fortan mit dem Kürzel ED1 schmücken. ED steht für Erstdirektion, die Ziffer 1 besagt, dass aus seiner Struktur eine weitere Direktion "nachgewachsen" ist. Andererseits schmerzt der Abgang finanziell, denn mit dem Ziehsohn und dessen Struktur verliert er einen guten Teil des Umsatzes.

Um diese Einbußen zu kompensieren, ersann der 2014 verstorbene DVAG-Gründer Reinfried Pohl die ED-Provision. Der Leiter der Stammdirektion hat laut dem in Deutschland gültigen Vermögensberater-Vertrag die Option, mindestens zehn Jahre lang an den Provisionen dieser nachgewachsenen Struktur zu partizipieren. Die Formel dafür ist nicht ganz einfach, im Schnitt läuft es Kennern des Unternehmens zufolge aber auf rund 80 Cent je Einheit hinaus – also jene Größenordnung, die dem Direktionsleiter durch den Abgang seines Zöglings verloren ging. Mit einem entscheidenden Unterschied: Arbeit in Form von Anwerbung, Ausbildung oder Betreuung ist für diese Vergütung nicht mehr nötig, das übernimmt der Chef der neuen Direktion.

Ferienhaus an der Algarve als Schmankerl
Allerdings ist die Höhe der ED-Provision zumindest anfangs auf einen bestimmten Anteil des Gesamtumsatzes der Stammdirektion begrenzt. So sorgte Pohl dafür, dass sich der "alte" Chef nicht zu früh auf den Erfolgen seiner Zöglinge ausruht, sondern weiterhin selbst mit anpackt, um den Umsatz der Stammdirektion nicht zu sehr absacken zu lassen. Diese Obergrenze steigt jedoch mit der Zahl der "direkt nachgewachsenen Direktionen", wie es im Vermögensberater-Vertrag heißt. Und ab Stufe ED6 entfällt die Begrenzung dann komplett. Sprich: Der Leiter der Stammdirektion partizipiert ab diesem Zeitpunkt unbegrenzt an den Provisionen aller nachgewachsenen Strukturen.

Um welche Summen es dabei geht, zeigt eine Überschlagsrechnung. Eine Voraussetzung, um zum Direktionsleiter befördert zu werden, sind mindestens 68.000 Einheiten Gesamtumsatz binnen zwölf Monaten in der selbst aufgebauten Struktur. Bei sechs nachgewachsenen Direktionen und rund 80 Cent ED-Provision pro Einheit steht dem einstigen Förderer also regelmäßig ein sechsstelliger Euro-Betrag im Jahr zu – ein netter Nebenverdienst, der ohne weitere Gegenleistung fließt.

Nicht nur das. Als Schmankerl stellt die DVAG einem ED6-Direktionsleiter laut Vermögensberater-Vertrag ein "Ferienobjekt in Portugal" zur Verfügung. In der Praxis bedeutet das Informationen von FONDS professionell ONLINE zufolge ein lebenslanges Wohnrecht in einer Villa in der "Vila Vita"-Anlage, einem konzerneigenen Luxusresort an der Algarve.

Von den meisten bewundert, von manchen vergöttert
Entsprechend attraktiv ist es, die Karrierestufe ED6 oder höher zu erreichen, sowohl finanziell als auch mit Blick auf das Ansehen innerhalb des Finanzvertriebs. Wer es so weit gebracht hat im Karrieresystem der DVAG – und das tun nur sehr wenige – dient Tausenden Vermögensberatern als Vorbild. Von den meisten Mitgliedern der DVAG-Familie wird er ehrlich bewundert, von manchen geradezu vergöttert.

L. war jahrelang ein solches Vorbild, er hatte es sogar zum ED7-Direktionsleiter gebracht. Zuletzt machte er von einer Altersregelung Gebrauch, während einer fünfjährigen Übergangszeit übergab er sein Lebenswerk in neue Hände und verabschiedete sich Ende 2023 in den Ruhestand. L. gehört zu jener Gruppe von 35 Vermögensberatern, die 1975 unter Pohls Regie die DVAG aus der Taufe gehoben hatten. Konzernintern werden sie liebevoll "Gründungsmitglieder" genannt, obwohl das Ehepaar Pohl seinerzeit bekanntlich keinen Verein gründete, sondern ein Unternehmen.

Der reiche Dagobert auf der Einladungskarte
Am 25. März 2017 gehörte dem Gründungsmitglied L. die große Bühne. Im konzerneigenen Zentrum für Vermögensberatung in Marburg feierte ihn die DVAG als "einen der erfolgreichsten Direktionsleiter unserer Berufsgemeinschaft", wie es in einer internen Veröffentlichung für Vermögensberater heißt. Zur "offiziellen ED6-Feier" war nicht nur der komplette Vorstand der DVAG angereist, sondern auch der damalige Aufsichtsratschef Friedrich Bohl. Auf der Einladungskarte für die Veranstaltung ist neben Bildern aus L.s Karriere eine Montage mit einer bekannten Zeichentrickfigur zu sehen: Dagobert Duck schiebt eine Schubkarre voller Münzen, auf die eine überdimensionierte Flasche Champagner gebettet wurde.

Doch hat sich L. diesen dagobertesken Reichtum gemäß den Regeln verdient, die angeblich für alle Vermögensberater gelten? Offensichtlich nicht. FONDS professionell ONLINE liegt ein Dokument vor, aus dem hervorgeht, welche Direktionsleiter L. angeblich gefördert hat, um die ED6- und kurz darauf sogar die ED7-Stufe zu erreichen. Die meisten dieser Vermögensberater wurden Informationen der Redaktion zufolge von anderen Direktionsleitern angeworben und ausgebildet, nicht von L. selbst. Einer der Genannten ist sogar selbst Gründungsmitglied und kann schon deshalb nicht von L. rekrutiert worden sein. Das Kriterium der "direkt nachgewachsenen Direktionen", das der Vermögensberater-Vertrag als Voraussetzung für die ED-Einstufung nennt, ist demnach nicht erfüllt. Dennoch erhielt L. Anspruch auf üppige, nicht gedeckelte ED-Provisionen und ein Ferienhaus in Portugal.

Nur Leistung zählt? Nicht in jedem Fall
Warum die DVAG L. jahrelang ED-Strukturen zuordnete, die ihm gemäß der konzerneigenen Karrierelogik nicht zugestanden hätten, lässt sich nicht zweifelsfrei klären – das Unternehmen schweigt dazu, L. ebenfalls. Weshalb der Finanzvertrieb ihn als "einen der erfolgreichsten Direktionsleiter" preist, obwohl er sich die honorierten Erfolge nicht alle selbst erarbeitet hat, bleibt ebenfalls offen. Tatsache ist, dass es zu den genannten Strukturverschiebungen kam.

Bei der DVAG ist es eben nicht "einzig und allein die Leistung, die den Aufstieg, das Einkommen und das Vorankommen auf der Karriereleiter bestimmt", wie das Unternehmen behauptet. Jedenfalls nicht in jedem Fall. (bm)