Die Finanzbranche zählt zu den Sektoren, die mit dem Einsatz fortgeschrittener künstlicher Intelligenz die höchsten Produktivitätssteigerungen erzielen könnten. Dies zeigt eine Studie des McKinsey Global Institute, welche FONDS professionell ONLINE vorab vorlag. So könnten Banken ihre Erträge um 2,8 bis 4,7 Prozent pro Jahr ausweiten, gemessen am Umsatz, den die Branche im Jahr 2022 erwirtschaftete. Banken rangieren damit an zweiter Stelle nach dem Hochtechnologie-Sektor. Diesem billigen die Experten Umsatzsteigerungen um jährlich 4,8 bis 9,3 Prozent zu.

Das Thema künstliche Intelligenz hatte mit dem Start der Plattform ChatGPT des Unternehmens OpenAI an Fahrt gewonnen. Das Programm kann Fragen in einem gesprächsartigen Verlauf beantworten und Texte erstellen. Dies gilt als "Generative AI" (GenAI) und stellt eine Weiterentwicklung zu bisherigen Systemen künstlicher Intelligenz dar. An OpenAI ist der Software-Riese Microsoft beteiligt. Die Freischaltung des Chatbots hat Fragen zu den Einsatzmöglichkeiten aufgeworfen, aber auch eine Diskussion über soziale, ethische und wirtschaftliche Risiken entfacht.

"Neue Ära der technologischen Innovation"
Die Analysten des zur Unternehmensberatung McKinsey gehörenden Instituts haben nun in ihrer Studie ausgelotet, welche Produktivitätssteigerungen der Einsatz von GenAI ermöglichen würde. Für alle 21 untersuchten Branchen und 63 Anwendungsfälle schätzen die Experten den jährlichen Produktivitätszuwachs auf 2,6 bis 4,4 Billionen US-Dollar. Dies liegt in der Größenordnung des Bruttoinlandsprodukts von Großbritannien, das sich im Jahr 2021 auf 3,1 Billionen Dollar bezifferte.

"Die zunehmende Entwicklung von GenAI eröffnet eine neue Ära der technologischen Innovation", sagt Gérard Richter, Senior Partner im Frankfurter McKinsey-Büro."GenAI ist ein Hilfsmittel, um die Produktivität zu steigern und das globale Wirtschaftswachstum anzukurbeln." Für die Bankbranche kommen die Analysten in absoluten Zahlen auf einen jährlichen Ertragszuwachs in Höhe von 200 bis 340 Milliarden Dollar. Bei Versicherungen rechnen die McKinsey-Beobachter mit 50 bis 70 Milliarden Dollar Mehrwert pro Jahr. Auch einzelne Asset Manager experimentieren mit ChatGPT.

Automatisierung akademischer Arbeiten
Letztendlich könnten die Auswirkungen sogar höher ausfallen, und zwar wenn GenAI in Software wie Textverarbeitungsprogrammen oder Chatbots integriert werde. Dadurch könnte die frei werdende Arbeitszeit für andere Aufgaben genutzt werden. Dementsprechend werden die Fortschritte von künstlicher Intelligenz die Veränderungen in der Arbeitswelt beschleunigen, zeigen sich die Analysten überzeugt. Die Unternehmen müssten ihre Mitarbeiter im Umgang mit den neuen Instrumenten schulen und die Arbeitsaufgaben anpassen.

Grundsätzlich erreiche der technische Fortschritt eine neue Stufe. Denn nunmehr würden nicht allein mehr handwerkliche Tätigkeiten wie etwa die Autoproduktion von Robotern übernommen. Vielmehr seien nun besonders geistige Tätigkeiten erfasst, die eigentlich einen Hochschulabschluss erfordern. "Das Bild, dass nur manuelle Tätigkeiten automatisiert werden, dreht sich gerade", sagt Christoph Sporleder, Partner bei McKinsey. "GenAI könnte potenziell den Unterschied bei der Einführung und Nutzung von Automatisierungstechnologien zwischen Gruppen mit hohen und niedrigen Löhnen einebnen."

"Ära hat gerade erst begonnen"
So entfallen drei Viertel des geschätzten Ertragszuwachses durch den Einsatz künstlicher Intelligenz auf die Bereiche Kundenservice, Marketing und Vertrieb, Softwareentwicklung sowie Forschung und Entwicklung. Ihre Schätzungen stützen die Studienautoren auf eine Analyse möglicher Anwendungsszenarien und auf Gespräche mit mehr als 100 Branchenkennern. Daraus errechneten sie das mögliche jährliche Wertsteigerungspotenzial. Dabei handelt es sich noch um eine konservative Abschätzung, da völlig neue Produkt- oder Dienstleistungskategorien außen vor blieben.

"Die GenAI-Ära hat gerade erst begonnen", resümiert McKinsey-Partner Richter. "Die Begeisterung für diese Technologie ist spürbar und erste Pilotprojekte sind vielversprechend." Doch um die vollen Vorteile der Technologie zu realisieren, werde noch Zeit benötigt. Und: "Führungskräfte in Wirtschaft und Gesellschaft stehen noch vor erheblichen Fragestellungen", betont Richter. (ert)