Als das kalifornische Unternehmen OpenAI seine ChatGPT-Software an den Markt brachte, wurde nicht nur die breite Öffentlichkeit schlagartig mit den enormen Fortschritten der künstlichen Intelligenz (KI) konfrontiert. Selbst IT-Konzerne wie Google wurden kalt erwischt von der Marktreife der Technologie. ChatGPT kann Texte sinnhaft zusammenfassen, Reden schreiben, Zusammenhänge erklären oder Computerprogramme schreiben, genauso wie es in der Lage ist, täuschend echte Fotos und Videos selbst zu generieren und Schulabschlussprüfungen positiv zu bewältigen. Mit Nachdruck arbeiten seitdem Unternehmen daran, diese weite Bandbreite der neuen "technischen Intelligenz" für sich zu nutzen. Insbesondere gilt das für den Finanzsektor, wo die Datenaufbereitung ein Kernelement des Geschäftserfolgs ist.

Weit gediehen sind die Bemühungen bei J.P. Morgan Asset Management, wie unlängst bei einer Präsentation vor Fachleuten in Wien zu sehen war. Der US-Vermögensverwalter setzt im Rahmen seiner KI-Drehscheibe "Spectrum" bereits mehrere Werkzeuge ein und arbeitet an weiteren Entwicklungen, die allesamt das Ziel haben, das Portfoliomanagement effizienter zu machen.

Subjektive Analysten erkennen
So können Fondsmanagement oder Investmentspezialisten auf eine Oberfläche zurückgreifen, die nicht nur sämtliche Fundamentaldaten und Berichte vereint, die es zu einer Aktie gibt. Zusätzlich wurde dem Tool zum Beispiel "beigebracht", die Voreingenommenheit von Analysten zu identifizieren und damit Prognosefehler vorherzusagen und sie zu vermeiden.

Möglich ist das, weil das Programm mit Informationen aus mehreren Dekaden gefüttert wurde und es daraus seine Schlüsse zieht. "Wir verfügen über Analysten- und Researchdaten aus den vergangenen 30 Jahren, die wir nutzbar machen", erklärte Frances Gerhold, Chefin des Investmentspezialistenteams Internationale Aktien bei J.P. Morgan Asset Management, bei dem Termin in Wien. Dieser enorme Pool werde nun Schritt für Schritt durch den Einsatz von KI materialisiert beziehungsweise so aufbereitet, dass man ihn in der täglichen Arbeit tatsächlich bequem und sinnhaft nutzen kann.

"Moneyball"
Im vorliegenden Fall eben, indem der Fondsmanager sieht, wie weit ein individueller Analyst bisher bei einzelnen Titeln mit seinen Prognosen von den tatsächlichen Entwicklungen abgewichen ist. Oder ob bei gewissen Aktien tendenziell zu viel Optimismus oder übertriebener Pessimismus herrscht.

Detail am Rande: Diese spezifische Anwendung heißt nicht zufällig "Moneyball"; es handelt sich um eine begriffliche Anleihe bei dem gleichnamigen US-Film, in dem ein absteigendes Baseballteam seine Spieler erstmals via computergestützter Statistikverfahren besetzt und so in die Erfolgszone kommt.

Neuer Schub durch schöpferische KI erwartet
"Moneyball" ist nur ein Tool unter mehreren. Hohe Erwartungen hat J.P.-Morgan-Managerin Gerhold an eine generative KI unter dem Namen "Spectrum GPT", die gerade in Arbeit ist und bald über die "Spectrum"-Plattform für die breite Nutzung im Unternehmen bereitstehen soll. "Spectrum GPT" durchforste Millionen von Nachrichtenartikeln, Sitzungsprotokollen oder Forschungsnotizen, so Gerhold. Die Anwendung werde gerade darauf trainiert, aus diesen Daten in Sekundenschnelle konkrete Fragen zu beantworten.

Einen Einblick in dieses Werkzeug gab es für das Publikum in Wien: Was hat Apple-Chef Tim Cook beim Earnings Call mit Analysten am Telefon vor zwei Quartalen zu den Markterwartungen in Asien gesagt? Die KI hat das gesprochene Wort nicht nur in Text gewandelt, sondern "weiß", was in dem Dokument wesentlich ist: Welches Produkt wurde als Wachstumstreiber vorgestellt, was waren die Hauptaussagen? "Spectrum GPT" liefert die Antwort. Auch hier sollen die J.P.-Morgan-Portfoliomanager wieder auf die Daten aus Jahrzehnten zurückgreifen können.

KI im Alltag
Im Einsatz sind bei J.P. Morgan AM bereits Programme wie ein selbstlernendes Tool, das Risiken bei konkreten Aktien erkennt ("Equity Failure Model"), oder ein Fundamentaldaten-Analyseprogramm ("Applied Data Science"), das bei der Portfoliokonstruktion helfen soll. Die Bemühungen würden nicht darauf abzielen, dass dem Fondsmanagement die Investmententscheidung abgenommen wird, betonte Gerhold. Im Wesentlichen stehe schlicht die Zeitersparnis im Vordergrund.

Gerhold sprach nicht von Bedrohungen der KI für traditionelle Branchen, hob aber mit Verweis auf eine McKinsey-Untersuchung ("The Key to Value from Generative AI? Re-wiring your Company") hervor, dass die Geschäftsmodelle am Finanzsektor stärker betroffen seien als in anderen Bereichen. Dementsprechend groß ist auch die Zahl der Mitarbeiter, die sich bei J.P. Morgan mit solchen und ähnlichen Themen auseinandersetzen. "Wir beschäftigen momentan über 56.000 IT-Mitarbeiter", so die Expertin. (eml)