Erste-Group-Chef Willibald Cernko übt einmal mehr Kritik an der seit vergangenem August geltenden Kreditinstitute-Immobilienfinanzierungsmaßnahmen-Verordnung (KIM-V), welche strengere Vergabestandards für Wohnbaukredite festlegt. Es sei "eine liebevoll gepflegte Legende", dass die Verordnung nötig ist, um Kreditnehmer vor einer Überschuldung zu schützen. "Heute, angesichts steigender Zinsen, stagnierender Immobilienpreise und hoher Inflation, gibt es keinen Grund mehr für die Verordnung, man muss die Kreditverschärfung komplett streichen", so Cernko in einem Interview mit der Tageszeitung "Der Standard". Es gebe genug Spielregeln, die der Aufsicht erlauben, jederzeit einzuschreiten. Man wolle nicht die Spekulation fördern, sondern Menschen bei der Wohnraumschaffung helfen.

Kritik an nicht durchgesetzter KESt-Befreiung
Unzufrieden mit dem Gesetzgeber zeigte sich Cernko auch wegen der mangelnden Unterstützung für private Aktienanleger und der bisher nicht realisierten Wiedereinführung der Behaltefrist für kapitalertragssteuerfreie Erträge. "Der Kapitalmarkt ist ein Turbo für die Wirtschaft, und ich verstehe nicht, warum man den nicht nützt. In Österreich diskutieren wir seit Monaten, die Kapitalertragssteuer auf Wertpapiererträge zu streichen und dafür eine Behaltefrist einzuführen. Gäbe es das, würden mehr private Investoren einsteigen", so der Erste-Chef. Der Kapitalmarkt werde hingegen in Österreich als Zockerpartie gesehen. "In Österreich besitzen nur acht Prozent der privaten Haushalte Aktien, die Aktie wird immer noch ideologisch verbrämt und dämonisiert."

Eine Warnung wegen der Vernachlässigung des Kapitalmarktes schickt Cernko auch an die EU und verweist auf die nicht vorankommende Umsetzung der Kapitalmarktunion. Viele nationale Regierungen seien hier "völlig im Hintertreffen". Es sei unmöglich, die Transformation der Wirtschaft nur mit Förderungen und Bankkrediten zu stemmen. "Dabei verfügen die privaten Haushalte in der EU über 10.000 Milliarden Euro an Bargeld und Bankguthaben – und für die Nachhaltigkeitstransformation brauchen wir bis 2030 rund 500 Milliarden Euro an privaten Investitionen. Das Geld ist verfügbar, wir brauchen es im Kapitalmarkt", so Cernko in dem Gespräch mit der Zeitung, in dem er auf die Folgen verweist.

China auf Kosten Europas gewachsen
Während die US-Volkswirtschaft ist in den vergangenen drei Jahrzehnten um 330 Prozent gewachsen sei, seien es in Europa nur 168 Prozent gewesen. Der Anteil der USA an der weltweiten Wirtschaftsleistung (BIP) sei mit rund einem Viertel gleichgeblieben, Europa hingegen von 27 auf 17 Prozent gefallen, und China sei heute ungefähr gleichauf mit Europa.

Was den Wettbewerb betrifft, gibt es außerdem ein klares Nein zu einer Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden. "Damit werden wir nicht nach vorn kommen, sondern uns rückwärts katapultieren. Weil die Produktivität darf nicht sinken – und wir werden die Leute nicht finden, die den Rest der Zeit auffüllen", so Cernko.

"Freuen uns auf KI"
Gleichzeitig betonte er, dass man in Sachen Effizienz auch am Banksektor über künstliche Intelligenz (KI) nachdenkt. KI könne "für unsere Beraterinnen und Berater so etwas wie ein nützlicher Assistent werden", so Cernko. "Wir freuen uns auf die KI, denn sie kann uns helfen, noch besser zu werden", betont der Bankchef.

Cernko, der einst beim Rivalen Bank Austria tätig war, gestand in dem Interview, dass die Branche die Tragweite des Börsegangs der Erste Group vor 26 Jahren nicht realisiert hatte: "Ja, ich war bei der Konkurrenz, und wir haben das, was unter dem Kommando Treichls passiert ist, unterschätzt. Andere sahen es als viel zu riskant an. Wir haben das mäßig ernst genommen. Aber was da entstanden ist, ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte", so Cernko, dessen Vertrag noch bis Ende 2024 läuft. (eml)