Die Conclusio des Vortrags des österreichischen Ex-Kanzlers und früheren SPÖ-Vorsitzenden Christian Kern auf dem FONDS professionell KONGRESS in Wien könnte lauten: Europa ist der Einäugige unter Blinden – insofern lohnt es sich für Marktteilnehmer, Unternehmer und Investoren nach wie vor in der Europäischen Union engagiert zu bleiben. Doch wie kommt der Politiker, der während seiner Zeit in der Privatwirtschaft – also im Top-Management des Versorgers Verbund und den ÖBB (Österreichische Bundesbahnen) – eine umfassende Expertise in Sachen Infrastruktur und Energiewirtschaft sammeln konnte, zu diesem Schluss?

Forderung nach Resilienz
Tatsächlich ist es aus Kerns Sicht so, dass der Kontinent einem Tsunami aus externen Einflüssen ausgesetzt ist. Da wäre natürlich in erster, gegenwärtiger Linie der von Russland losgetretene Ukraine-Konflikt. Dieser ist aus Sicht Kerns in eine Phase des Abnützungskrieges eingetreten. "Und aus dieser Perspektive ist es uns nach wie vor nicht gelungen, in einen Modus zu switchen, der es uns ermöglicht, diesen Konflikt zu gewinnen." Aus Kerns Sicht benötigt es eine "Art von Kriegswirtschaft". Das Modell der Wohlstandswirtschaft hält er für abgelaufen, insgesamt gehe es darum, "ökonomisch widerstandsfähiger zu werden", sich unabhängiger zu machen, was wiederum bedeutet, dass Europa alternative, selbst nutzbare Energietechnologien "stärker subventionieren muss".

Konkurrierende Wirtschaftsblöcke
Das sei eine Strategie, die von den konkurrierenden Wirtschaftsblöcken schon lange gefahren werde. "Die USA haben 380 Milliarden in die Hand genommen, um Industrie ins Land zu holen. Entgegen der landläufigen Meinung sind die Vereinigten Staaten enorm dirigistisch und protektionistisch", erklärt der ehemalige Politiker. Und nach dem letzten Volkskongress müsse allen klar sein: "China fährt eine knallharte, staatlich gelenkte Industriepolitik." Als Beispiel dafür nannte Kern Chinas Bemühungen, den Markt für Fotovoltaik unter Kontrolle zu behalten: "China bestreitet in diesem Bereich 85 bis 95 Prozent der Wertschöpfungskette. Ein wichtiger Rohstoff in diesem Zusammenhang ist Kupfer. Hier hat Europa de facto keine Abbaumöglichkeiten – aber eine starke Recycling-Wirtschaft. Was hat China zuletzt gemacht? Zwei Drittel des europäischen Kupferschrotts aufgekauft."

Europa trotzdem ein Investment-Case
Insgesamt sei Europa als Standort dem Rest der Welt jedoch nach wie vor vorzuziehen. Kern argumentiert mit der im Vergleich nach wie vor hohen politischen Stabilität, dem hohen Wohlstandsniveau und nicht zuletzt der hohen rechtsstaatlichen und regulatorischen Sicherheit – womit wir beim Einäugigen unter Blinden gelandet wären.

"Kein Kinderfasching mehr"
Auf der Makro-Ebene hat Kern auch Worte zur Staatsverschuldung und den aktuellen Zinsniveaus gefunden: "Die Neuverschuldung war bei einem Null-Prozent-Zins kein großes Problem. Das aktuelle Zinsniveau führt in Österreich aber zu einem Schuldendienst von jährlich 20 Milliarden Euro – das ist kein Kinderfasching mehr, das entspricht den gesamten Ausgaben für unser Bildungssystem."

Massiver Preisverfall
In puncto Energiepreise sieht der ehemalige Verbund-Topmanager massive Volatilitätsrisiken – diesmal aber durch einen massiven Preisverfall: "In fünf, sechs Jahren werden wir so niedrige Energiepreise haben, dass niemand mehr investiert." Das stellt insbesondere beim Umstieg auf Erneuerbare ein Problem dar – womit sich der Kreis zu den Subventionsforderungen des ehemaligen SPÖ-Chefs schließt. Und apropos SPÖ – zu deren Zustand war Kern nichts zu entlocken: "Wenn Sie zur SPÖ Fragen haben, muss ich Sie enttäuschen. Ich verstehe selbst nicht, was da derzeit vorgeht." (hw)