In der Versicherungsbranche schlagen die ­Wogen weiter hoch. Der Grund: das sogenannte "ewige" Rücktrittsrecht bei ­Lebensversicherungsverträgen. Verbraucherschützer, Prozesskostenfinanzierer, Anlegeranwälte und selbst Versicherungsvermittler wittern das große Geschäft.

Dabei wird Versicherungsnehmern in Aussicht gestellt, dass sie beim Rücktritt von ihrem Lebensversicherungsvertrag nicht den Rückkaufswert, sondern die einbezahlten Prämien zuzüglich vier Prozent Zinsen pro Jahr erhalten. Abschluss- und Verwaltungskosten sowie Fondsverluste sollen zu Lasten der Versicherung gehen. In Zeiten, in denen die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die darauf folgende Niedrigzinsphase zu mageren Erträgen bei Lebensversicherungen führten, ein für viele Versicherungsnehmer verlockendes Angebot. 

Vom EuGH zum BGH zum OGH
Was war geschehen? Den Stein ins Rollen brachte der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) mit einer Frage an den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Im Anlassfall trat ein deutscher Versicherungsnehmer von seinem Lebensversicherungsvertrag nach jahrelanger Prämienzahlung zurück, weil er vor Vertragsabschluss nicht ordnungsgemäß über sein Rücktrittsrecht belehrt wurde. Bei Vertragsabschluss im Jahr 1998 sah das deutsche Gesetz noch vor, dass das Rücktrittsrecht ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, auch wenn der Versicherungsnehmer nicht über sein Recht belehrt wurde. Der deutsche Gesetzgeber war davon ausgegangen, dass ein Versicherungsnehmer, der ein Jahr lang seine Prämien leistet, den Bestand des Vertrags nicht mehr anzweifelt.

Als der klagende Versicherungsnehmer 2008 seinen Rücktritt erklärte, wurde dies vom Versicherer abgelehnt mit der Begründung, dass sein Rücktrittsrecht nach einem Jahr erloschen sei. Der Bundesgerichtshof wollte deshalb vom Europäischen Gerichtshof wissen, ob das einschlägige Gesetz gegen Unionsrecht, konkret gegen die Lebensversicherungs-Richtlinien, verstoße. Der Europäische Gerichtshof entschied im Dezember 2013, dass das Rücktrittsrecht dann nicht erlöschen dürfe, wenn der Versicherungsnehmer falsch belehrt wurde. Einem solchen Versicherungsnehmer stehe sein Rücktrittsrecht weiterhin zu, selbst wenn der Vertrag vor vielen Jahren geschlossen wurde.

Mit dieser Entscheidung kamen viele deutsche Versicherer in eine Situation, in der sich ihre österreichischen Kollegen heute befinden. Zahlreiche Versicherungsnehmer traten, gestützt auf die europäische Rechtsprechung, von ihrem oft viele Jahre laufenden Lebensversicherungsvertrag zurück. Viele Fragen, die aktuell in Österreich in diesem Zusammenhang diskutiert werden, wurden daher von deutschen Gerichten bereits behandelt. 

Wie so oft kam diese juristische Debatte mit einiger Verspätung nach Österreich. Der Auslöser war eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (OGH) im September 2015. Im konkreten Fall hatte der Kläger beim beklagten Versicherungsunternehmen eine fondsgebundene Lebensversicherung abgeschlossen. In den übergebenen Versicherungsbedingungen war eine Belehrung über das Rücktrittsrecht mit einer Rücktrittsfrist von 14 Tagen – anstatt 30 Tagen entsprechend der damaligen Rechtslage – enthalten. Das Versicherungs­unternehmen lehnte den im März 2014 erklärten Vertragsrücktritt des Klägers als verspätet ab. Der Oberste Gerichtshof gab dem Versicherungsnehmer recht. Aufgrund der fehlerhaften Belehrung durch das Versicherungs­unternehmen (14 statt 30 Tage) stehe dem Kläger ein unbefristetes Rücktrittsrecht zu. Der Rücktritt war daher gültig. 

Diese Entscheidung des OGH schlug in der Branche gehörig ein. Nach einer allgemeinen Aufwärmphase, in der Berechnungen angestellt, Argumente ausgetauscht sowie Rücktritte erklärt und von den Versicherern abgelehnt wurden, kam es zuletzt häufiger zum Schlagabtausch vor Gericht. Erste dazu ergangene Urteile stützen auf den ersten Blick die Argumente der klagenden Versicherungsnehmer. Viele Fragen sind jedoch weiterhin offen. Bevor daher der von vielen erhoffte Geld­regen auf die Versicherungsnehmer niederkommt, sind einige Hürden zu überwinden. 

Inhalt der Rücktrittsbelehrung
Die entsprechende Bestimmung im österreichischen Versicherungsvertragsgesetz 
(§ 165a), die den Rücktritt regelt, wurde im Lauf der Zeit häufig geändert. Während die von 1994 bis Ende 1996 gültige Fassung eine 30-tägige Frist für den Rücktritt vorsah, die mit dem Zustandekommen des Vertrags beginnen sollte, wurde die Frist ab Anfang 1997 auf zwei Wochen verkürzt. Ab Oktober 2004 galt schließlich wieder die 30-tägige Rücktrittsfrist, bei der es ab Anfang 2007 zu der Änderung kam, dass die Frist erst ab Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags zu laufen beginnt.

Der Argumentation der Kläger folgend wurden diese Gesetzesänderungen von den Versicherern häufig nicht umgehend umgesetzt beziehungsweise wurden im Kundengespräch oftmals veraltete Drucksorten verwendet. Nach Meinung des OGH stünde dem Versicherungsnehmer in solchen Fällen ein unbefristetes Rücktrittsrecht zu. Sollte sich ­jedoch im Gerichtsverfahren ergeben, dass die Versicherungsbedingungen eine richtige ­Belehrung enthielten, so täte ein außenstehender Prozessbeobachter wohl besser daran, sein Geld auf den Prozessgewinn des Versicherers zu setzen. 


Den gesamten Artikel von Mag. Christian Lenz und Mag. Christian Hauser, beide Mitarbeiter der auf Kapitalmarktrecht spezialisierten Kanzlei Brandl & Talos Rechtsanwälte,  finden Sie in der aktuellen Heftausgabe 1/2017 von FONDS professionell, die Ende März erscheint.