Wer in Europa russische Aktien gekauft hat, erwarb in der Regel nicht das Original, sondern ein stellvertretendes Zertifikat auf die Aktie, sogenannte American Depositary Receipts (ADR).  Es handelt sich um von US-Banken ausgegebene Hinterlegungsscheine, die das Eigentum an einer Aktie verbriefen und meist auch das Recht auf Dividenden beinhalten. Was lange gut funktionierte, wird nun durch den russischen Angriff auf die Ukraine und die damit verbundenen Sanktionen den Anlegern zum Verhängnis. Weil die amerikanischen Banken diese Zertifikate auf russische Aktien kündigen, drohen den ADR-Inhabern hohe Verluste. 

Laut Florian Beckermann, Vorstand des Interessensverbands für Anleger (IVA), haben auch in Österreich Anleger in russische ADR Post von ihren heimischen Depotbanken erhalten. Darin werden sie zu einer Entscheidung innert kurzer Frist aufgefordert: Entweder man lässt die US-Bank die Originalaktie verkaufen und erhält den Erlös – eine in der Regel verlustreiche Option, weil die russischen Papiere seit der Invasion massive Wertminderungen hatten, beziehungsweise komplett auf Null fielen. Oder man konvertiert seine ADR in russische Originalaktien – was aber kaum durchführbar scheint, weil es dafür ein russisches Depot bräuchte. Auch die österreichischen Banken könnten wegen der Sanktionen gegen den russischen Zentralverwahrer NSD nicht aushelfen, so Beckermann.

Mögliche Erholung bleibt gekündigten ADR-Anlegern verwehrt
Anleger würden "in den Sanktionsstrudel" geraten. Die gewährten Übergangsfristen seien extrem kurz und kämen noch dazu mitten in der Urlaubszeit. Anders als für Inhaber von Originalaktien sei es damit nicht möglich, durch die Krise zu tauchen, kritisiert Beckermann. Angesichts der Aufkündigung der Zertifikate bleiben hiesige Anleger von einer späteren möglichen Wertaufholung ausgeschlossen. Profitieren dürften in dieser Situation hingegen Anleger, die Zugang zu Originalaktien haben. Beckermann nennt hier russische Investoren und eventuell die US-Banken. Er empfiehlt, sich rechtlich beraten zu lassen.

Wer online sucht, findet tatsächlich etliche Anwaltskanzleien, die einen Weg für die Konvertierung in Originalaktien versprechen. Alternativ empfehlen findige Anleger in diversen Onlineforen und "Do-it-yourself-Tutorials" eine Kontoeröffnung bei der nicht von den Sanktionen betroffenen Gazprombank. Die Lage ist extrem unübersichtlich. Kürzlich zitierte das deutsche "Handelsblatt" einen Anwalt, der betonte, man kenne noch keinen Fall, wo der Umtausch in Originalaktien wirklich geglückt sei. In allen Expertentipps findet sich aber ein übereinstimmender Rat: Man solle sich von den Fristen, die die Depotbanken momentan vorgeben, nicht unter Druck setzen lassen. Tatsächlich dürfte der Umtausch der Zertifikate in der Regel mehrere Monate lang, beziehungsweise innert Jahresfrist möglich sein. 

Tausende Betroffene
Die IVA geht für Österreich davon aus, dass sich russische ADR in "Tausenden privaten Portfolios" befinden. Außerdem seien sie wichtiger Bestandteil diverser Osteuropa-Fonds. Auch aus Deutschland wird von einem hohen Ausmaß berichtet. Laut "Handelsblatt" gab es bei der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) zu russischen Wertpapieren mehr Anfragen als zum Milliardenbetrugsfall Wirecard.

In Wien notiert eine ausführliche Anzahl von ADRs auf russische Aktien, allesamt aus dem Rohstoff- und Banksektor: Gazprom, Lukoil, Rosneft, Sberbank und VTB Bank. Aber auch weniger bekannte Namen wie Federal Hydro-Generating Company, Lenta, Magnit PAO, MMC Norilsk Nickel PJSC, Novatek OAO, Novolipetskiy Metallurgicheskiy, Phosagro PJSC, Severstal JSC, Sistema PJSFC, Surgutneftegaz OJSC, Tatneft PJSC, VK Company LTD. Davon einige auch als GDR (Global Depositary Receipts), das europäische Pendant zum US-ADR.

Ähnliches Szenario bei China-Aktien?
Nicht ausgeschlossen, dass Anleger dasselbe Szenario wie bei den Russland-ADR bald wieder erleben: Vorsicht ist momentan angesichts der Drohgebärden Chinas gegenüber Taiwan beziehungsweise gegenüber den USA angebracht. Sollten die USA oder Europa, wie bei Russland auch gegen China Sanktionen verhängen, könnte es am Kurszettel der Börse in Wien erneut kachen. Denn dort stehen auch einige chinesische ADRs.  

ADR oder GDR werden dann begeben, wenn Hindernisse beim Handel von Originalaktien umschifft werden sollen. Unter anderem können sich Unternehmen durch ein ADR die Kosten und hohen Aufwände für ein Direkt-Listing ersparen. In vielen Fällen werden Auslandsaktien auf diesem Weg erst zugänglich – nämlich bei Unternehmen von Ländern wie China oder Russland, die den Zugang für Ausländer zum Kapitalmarkt beschränken.

ADR können entweder von einem Depotanbieter oder Marketmaker aufgelegt werden, der sich dadurch gute Geschäfte erhofft. Solche unsponsored ADR sind eher selten. Meist geht es um sponsored ADR, wo die Initiative vom Unternehmen ausgeht. Russland hat im April ein Gesetz erlassen, wonach die Emittenten ihre ADR-Programme beenden müssen. (eml)