Es wäre wohl kein Fehler, Detlev Hummel als Professor im Unruhestand zu beschreiben. Der Finanzwissenschaftler wurde zwar 2020 emeritiert, nimmt aber weiterhin Lehraufträge in Potsdam, Hamburg und Peking wahr. Außerdem hat er eine Professur im polnischen Opole (Oppeln) inne und berät Unternehmen aus der Finanzdienstleistungsbranche. Einer seiner Schwerpunkte ist das Asset Management.


Herr Hummel, Sie blicken mit Sorge auf den rasanten Aufschwung der ETF-Branche. Warum?

Detlev Hummel: Um nicht falsch verstanden zu werden: ETFs sind an sich eine wunderbare Erfindung. Sie sind ein transparentes, nachvollziehbares und günstiges Finanzprodukt. Ich beobachte aber, dass viele Anleger sie zu unreflektiert einsetzen. Außerdem schlägt das Pendel seit einigen Jahren gefährlich in Richtung passiver Investments aus. Die "Aktiv versus passiv"-Debatte kam schon in den 1960er Jahren auf, und es gibt gute Argumente für beide Seiten. Der enorme Boom der passiven Investments in den vergangenen zehn Jahren hat aber dafür gesorgt, dass die Preisfindung an der Börse in bestimmten Marktphasen nicht mehr wirklich funktioniert. Für den Kurs einer Aktie geben die Fundamentaldaten oft gar nicht mehr den Ausschlag. Denn die Investoren analysieren nicht mehr die Einzeltitel, sondern laufen schlicht den Trends hinterher. Das hebelt die Funktion der Märkte aus, für eine effiziente Kapitalallokation zu sorgen.

Moment, auch wenn die ETF-Branche in den vergangenen Jahren rasant gewachsen ist: Noch werden die Märkte von aktiven Investoren dominiert.

Hummel: Sie haben insofern Recht, als nur rund zwölf Prozent des verwalteten Vermögens in ETFs stecken. Sie dürfen aber das "Closet Indexing"-Phänomen nicht ausklammern: Viele Manager behaupten nur, dass sie aktiv investieren würden, in Wahrheit folgen sie beinahe eins zu eins ihrem Vergleichsindex. Der Grund ist, dass sie nichts falsch machen wollen. Das mag aus ihrer Sicht verständlich sein, verschärft aber das Problem. Auch die Finanzaufsicht sieht das kritisch, unter anderem wegen der Gefahr möglicher Liquiditätsengpässe, die drohen, wenn sich die Stimmung plötzlich dreht und die Mehrheit der Investoren ihre Aktien verkaufen möchte. Diesen "Indexschmusern" ist allerdings schwer beizukommen. Sie können immer argumentieren, das Portfolio sei das Ergebnis ihrer Analyse und stimme nur zufällig mit dem Index überein. Ein weniger homogenes Verhalten der Investoren würde die Preisbildung an den Finanzmärkten jedenfalls verbessern. Es geht aber nicht nur um die Bewertungsfunktion der Märkte für Einzeltitel.

Sondern?

Hummel: Auch bei der Stimmrechtsausübung gibt es Tendenzen, die kritisch hinterfragt werden müssen. Die Aktionärsdemokratie ist eine wichtige Sache. Allerdings muss klar sein, dass sie es den großen Asset Managern ermöglicht, erheblichen Einfluss auf die Strategie der Unternehmen in ihrem Portfolio zu nehmen. Sie treiben die Unternehmen zu immer weiterem Wachstum und kurzfristigem Erfolgsdruck, was strategische Ziele schwerer erreichen lässt…

… was ja genau ihr Auftrag ist. Schließlich sollen sie das Geld ihrer Kunden mehren.

Hummel: Ja, aber dabei geraten leicht die gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen aus dem Blick. Wenn es beispielsweise um die Versorgung mit Nahrungsmitteln geht, ist es problematisch, nur auf den Profit zu achten. Wie anfällig solche Systeme sind, zeigt sich aktuell deutlich, wenn die Lieferketten plötzlich nicht mehr so reibungslos funktionieren wie sonst. Die Professionalität unter den Aktionären mag über die vergangenen Jahre deutlich zugenommen haben, aber die Meinungsvielfalt ging verloren. Daran sind natürlich nicht primär die ETF-Anleger schuld. Aber eine gewisse Trittbrettfahrermentalität darf man ihnen schon unterstellen.

Sie sagten, viele Anleger würden ETFs unreflektiert einsetzen. Ein ETF ermöglicht es, mit einem Finanzinstrument breit diversifiziert und günstig einen gesamten Markt abzudecken. Das klingt doch nach einer durchdachten Entscheidung.

Hummel: Erst einmal schon. Wichtig zu wissen ist jedoch, dass sich immer nur das Einzeltitelrisiko wegdiversifizieren lässt, nicht aber das Marktrisiko. Darum ist weiterhin ein Risikomanagement nötig. Viele Anleger meinen, mit ETFs seien sie auf der sicheren Seite, dem ist allerdings nicht so. Aktuell nehmen die Risiken an den Börsen zu, beispielsweise wegen der hohen Inflation und der steigenden Zinsen. Privatanleger, die in einer solcher Situation beim ETF-Kauf auf eine fundierte Beratung verzichten, agieren eher leichtfertig. Ein anderer Punkt ist die Zusammensetzung der Indizes. Wer aktuell in den MSCI World investiert, legt sein Geld nicht wirklich global diversifiziert an, sondern er setzt zu zwei Dritteln auf US-Aktien. Wie riskant das ist, zeigt ein Blick zurück: Ende der 1980er Jahre dominierten japanische Aktien den globalen Aktienmarkt, sie standen in der Spitze für 44 Prozent des MSCI World. Der Nikkei 225, der Leitindex der Tokioter Börse, konnte sein Ende 1989 verzeichnetes Hoch erst jüngst wieder erreichen, und das auch nur, wenn man die Dividenden berücksichtigt. Damals stand er bei knapp 39.000 Punkten, danach ging es jahrelang unter großen Schwankungen runter bis auf unter 10.000 Zähler. Hätte es damals schon ETFs auf den MSCI World gegeben, hätten die Anleger diese Entwicklung in Japan schmerzhaft zu spüren bekommen.

Ein Grundproblem dürfte sein, dass die großen Indizes nicht als Grundlage für Investments entwickelt wurden, sondern schlicht als Indikator für die Marktentwicklung.

Hummel: Dem kann ich nur zustimmen. Wer einen ETF auf die bekannten Indizes kauft, investiert in die Unternehmen, die in der Vergangenheit eine gute Performance aufwiesen. Das hat nichts mit einer analytischen, zukunftsgerichteten Anlageentscheidung zu tun.

Die Branche hat auf diese Kritik reagiert. Es gibt immer mehr Indizes, die tatsächlich nach den Wünschen der Investoren entwickelt wurden, beispielsweise was die Gewichtung der Einzeltitel oder die thematische Ausrichtung angeht. Sind entsprechende ETFs die bessere Wahl?

Hummel: Sie sind für Investments auf jeden Fall besser geeignet als die klassischen Indizes, die lediglich einen Markt abbilden sollen und historisch auch nach sehr unterschiedlichen, kaum vergleichbaren statischen Konzepten entwickelt wurden. Wichtig ist aber, den Prozess zu kennen, mit dem die Einzeltitel für den Index ausgewählt werden. Hält das Verfahren tatsächlich das, was der Anleger sich davon verspricht? Der ETF nimmt dem Einzelnen nicht die Verantwortung für seine Investments ab. Ein gutes Beispiel ist die Orientierung an ESG-Noten, die je nach Ratinganbieter zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen für ein und dasselbe Unternehmen kommen können. Klar ist auch, dass es zum Produktversprechen eines ETFs gehört, preiswert zu sein. Die Arbeit eines qualifizierten, gut bezahlten Analyseteams lässt sich damit nicht ersetzen.

Vielen Dank für das Gespräch. (bm)