Baijing Yu ist um ihre Aufgabe nicht zu beneiden: Die Co-Managerin des Comgest Growth China spricht auf Europa-Tournee über China-Aktien und ihren Fonds. Nicht, dass dessen Ergebnisse schlecht wären. Im Gegenteil: Langfristig liegt der Fonds weit vor dem MSCI-Landesindex. Doch sowohl mit Blick auf die absolute Wertentwicklung als auch in der Gunst der Anleger stehen chinesische Aktien derzeit nicht hoch im Kurs. Yu lässt sich davon nicht beeindrucken – und sie hat durchaus gute Argumente auf ihrer Seite.


Frau Yu, was fragen Ihre deutschen Kunden Sie in der Regel zuerst?

Baijing Yu: Die Themen sind oft ähnlich, aber die Reihenfolge verändert sich immer wieder: Meist geht es um Politik, Konjunktur, Immobilien und Konsum, je nachdem, was gerade in den Schlagzeilen ist. Und dann sprechen wir mit Investoren natürlich vor allem über den Aktienmarkt und die Unternehmen, in die wir investieren.

Dann beginnen wir doch auch gleich mit der Politik: 2022 bezeichnete eine Investmentbank das Land in einem Report als "nicht investierbar". Noch heute sehen das zahlreiche Investoren ähnlich. Sie als China-Fondsmanagerin sind da sicher anderer Meinung?

Yu: Wir sind davon überzeugt, dass der chinesische Markt derzeit äußerst attraktiv bewertet ist. Wenn Sie sich die durchschnittlichen Bewertungen des Aktienmarktes ansehen, dann sind diese mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis zwischen neun und zehn auf einem 15-Jahres-Tief. Natürlich gibt es Gründe, dass der Markt so günstig ist. Die Innenpolitik und insbesondere die Geopolitik zählen dazu. Die Wahlen in den Vereinigten Staaten dieses Jahr machen das nicht leichter, und viele Aussagen, die im US-Wahlkampf fallen, schlagen auf bestimmte chinesische Aktien durch. Politische Entscheidungen sind generell schwer vorherzusagen. Dennoch bleibt China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt mit reichlich Wachstumschancen durch Konsum, Urbanisierung und eine verbesserte Industrialisierung.

Üblicherweise heißt es, die Politik habe keinen großen Einfluss auf die Märkte. Politische Maßnahmen wie die US-Sanktionen sind für Chinas Börse aber offensichtlich doch sehr bedeutsam.

Yu: Man muss wohl akzeptieren, dass die Beziehungen zwischen den USA und China wahrscheinlich auch in Zukunft angespannt bleiben werden. Andererseits schaffen die US-Sanktionen auch neue Möglichkeiten.

Inwiefern?

Yu: Die US-Sanktionsliste hat das gesamte Umfeld für die chinesische Chip- und Halbleiterindustrie verändert. Gerade die Halbleiterindustrie war früher kaum wettbewerbsfähig. Wären die USA nicht so strikt bei ihren Handelsrestriktionen gewesen, hätten die chinesische Regierung und die einheimische Halbleiterindustrie nicht in so kurzer Zeit die Ressourcen und den Fokus in diese Richtung lenken können. Genauso wie US-amerikanische oder europäische Firmen über Sanktionen und die Sicherheit von Lieferketten nachdenken, müssen das auch chinesische Firmen tun. Damit eröffnen sich auch Geschäftsmöglichkeiten für heimische Lösungen. Es ist zwar noch ein weiter Weg, bis sie sich mit den Weltmarktführern messen können, aber sie machen bereits Fortschritte, vor allem bei den schon ausgereiften "Mature Node"-Verfahren. Dies ist nur ein Beispiel, und es gibt weitere fortschrittliche Industriesektoren, die von der inländischen Ersatznachfrage profitieren werden. Langfristig nutzt das auch den Anlegern. 

Chinas Wirtschaftsmodell scheint aber insgesamt zunehmend in Frage gestellt, wie die Konjunkturdaten zeigen.

Yu: China muss in den kommenden ein bis zwei Jahrzehnten eine tiefgreifende Transformation durchlaufen. Die Zeiten als billige Werkbank der Welt sind vorüber: China wandelt sich zu einer immer stärker von Forschung und Entwicklung getriebenen Volkswirtschaft, in der hoch qualifizierte Ingenieure hochwertige Produkte, etwa in der Automatisierungs- und Robotertechnik, entwerfen. Außerdem profitieren die Firmen von einem sehr großen und dynamischen Binnenmarkt. Aus dieser starken Stellung heraus expandieren sie dann auf den internationalen Märkten. 

Wie schätzen Sie die Erfolgschancen dieser Transformation ein? Gerade die Probleme am Immobilienmarkt bremsen die Konjunktur ja nach wie vor.

Yu: Der Immobilienmarkt stellt einen hohen Anteil am chinesischen BIP dar. Trotzdem: Die Regierung hat bereits früh gemerkt, dass die Verschuldung im Immobiliensektor zu hoch ist und dass künftiges BIP-Wachstum aus Sektoren mit einer höheren Wertschöpfung kommen muss. Bereits seit 2014 hat sie immer wieder versucht, den Immobilienboom allmählich und behutsam zu drosseln. Auf diese Weise wurden Risiken gemanagt – aber dann kam mit Covid ein unvorhersehbarer Schock. Dennoch: Die Anpassung im Immobilienmarkt ist ein notwendiges Übel, das China verdauen muss als Teil der Transformation hin zu einer Wirtschaft, die stärker von Produktivität getrieben wird. Ich bin zuversichtlich, dass die Transformation erfolgreich sein wird, aber es wird dauern und es führt kein Weg daran vorbei.

Wie berücksichtigen Sie diese Transformation in Ihrer Strategie?

Yu: Wir investieren in den gesamten Transformationsprozess der chinesischen Wirtschaft hin zu mehr Binnennachfrage und höherwertigen Produkten. Gute Aktien finden wir vor allem im Konsumgütersektor. Dazu zählen unterschiedlichste Bereiche von Grundnahrungsmitteln über Sportbekleidung bis hin zu Health Care, quasi alles wofür Menschen im Alltag Geld ausgeben. Aber wir investieren auch in Themen wie Automatisierung, erneuerbare Energien, Energiespeicher und E-Autos. Künstliche Intelligenz ist ebenfalls ein großes Thema. Es ist eine vergleichsweise junge Industrie, die wir uns genau anschauen und in der wir noch nach geeigneten langfristigen Qualitätswachstumsinvestments suchen. Wichtig ist dabei: Wir investieren frei von Indexbeschränkungen und langfristig. Dabei zählen für uns besonders die Qualität und Vorhersehbarkeit des Gewinnwachstums.

Unabhängig vom Index zu agieren ist auch ein Risiko.

Yu: Der Index blickt zurück auf die Entwicklung der Vergangenheit. Es ist, als würde man beim Investieren in den Rückspiegel schauen. Fernab des Index zu agieren, gibt uns die Freiheit, dort anzulegen, wo sich die Wirtschaft unserer Meinung nach hinbewegt. In Bezug auf China ist ein Bottom-up-Ansatz besonders hilfreich, um Sektoren mit hohen Risiken zu vermeiden. Wir investieren so, wie wir glauben, dass der Index in ein paar Jahren aussehen könnte.

Der Sportartikelhersteller Anta ist eines der Unternehmen, die Sie im Portfolio seit Jahren hoch gewichten.

Yu: Wir haben in Anta vor mehr als 15 Jahren zum ersten Mal investiert, seitdem haben sich Umsatz und Gewinn vervielfacht. Anta hat heute mehr als 20 Prozent Marktanteil in China. Der Konzern investiert in seine Marken und hat einen visionären Vertrieb, der schon früh stark auf Direktvertrieb und Online setzte. Wahrscheinlich kennen Sie Fila, Wilson oder Salomon – sie gehören alle direkt oder indirekt zu Anta. Der Startschuss war Fila: Anta kaufte den Sportartikelhersteller vor etwa zehn Jahren, als die Marke in Europa und den USA etwas aus der Mode geraten war, und hat ihn dann zunächst am chinesischen Markt sehr erfolgreich neu positioniert. Über den Einstieg beim finnischen Sportkonzern Amer gehören Anta nun unter anderem auch die Marken Wilson und Salomon. Solche Aktien mit einer langfristigen Wachstumsstrategie und einer erfolgreichen M&A-Story mögen wir besonders.

Und was haben Sie zuletzt ergänzt?

Yu: Ein aktuelles Beispiel ist Inovance. Die Firma stellt unter anderem Komponenten für die Automatisierungsindustrie her. Inovance ist ein direkter Wettbewerber von Yaskawa aus Japan. Wir glauben, dass das Unternehmen seinen Marktanteil in China deutlich ausbauen wird und eines Tages auch darüber hinaus expandieren dürfte. Inovance ist mit einem KGV von 25 für chinesische Verhältnisse relativ hoch bewertet, und wir nutzen Korrekturen zum Aufbau unserer Position. Wir sind langfristige Investoren, und wir finden in China derzeit eine Vielzahl von erfolgreichen Firmen, die auf lange Sicht ein enormes Potenzial haben. Wenn wir hier günstig einsteigen können, nutzen wir solche Gelegenheiten.

Vielen Dank für das Gespräch. (jh)