Die Nacht vom 14. auf den 15. September 2008 hat sich wohl den meisten Finanzprofis ins Gedächtnis gebrannt. In jenen Stunden musste die US-Investmentbank Lehman Brothers Insolvenzantrag stellen, weil weder die Konkurrenten noch die Politik bereit waren, das taumelnde Institut aufzufangen. Die Wochen danach gelten als die dramatischsten der jüngeren Finanzgeschichte – gefolgt von einer tiefen, heftigen Rezession, die Millionen Arbeitsplätze vernichtete.

Zehn Jahre nach diesem einschneidenden Ereignis hat sich FONDS professionell ONLINE bei prominenten Portfoliomanagern umgehört: Wie haben sie die damalige Zeit erlebt? Welchen Fehleinschätzungen sind sie erlegen, und welche Schlüsse zogen sie daraus? Und: Wo lauern heute die größten Risiken für die Finanz- und Wirtschaftswelt? Zum Auftakt unserer losen Interview-Reihe steht Hendrik Leber Rede und Antwort, der Gründer des Frankfurter Vermögensverwalters Acatis.


Herr Leber, wie haben Sie das dramatische Wochenende der letztlich gescheiterten Lehman-Rettung im September 2008 erlebt?

Hendrik Leber: Eigentlich war ich froh, dass endlich einer der Russisch-Roulette-Spieler am Kapitalmarkt mit dem Untergang belohnt wurde – so wie es sich im Kapitalismus gehört. Der braucht Konkurse als Sanktionsmittel. Sie disziplinieren das eigene Management, und die Konkursgefahr dient anderen Marktteilnehmern als Richtschnur, um gute Geschäftspartner auszuwählen. Es war die Sorglosigkeit und Verantwortungslosigkeit der kompletten Produktionskette von Subprime-Krediten – von der Kreditgenerierung über die Prüfung, das Rating, die Bündelung bis hin zur Filetierung in Tranchen –, die mit dem Konkurs von Lehman ein Ende fand.

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von der Pleite erfahren hatten?

Leber: Super, die Schuldigen werden bestraft! Wer ist der Nächste? Und: Wir müssen jetzt unsere Kurssicherung auflösen!

Hatten Sie erwartet, dass die Krise so tief reicht und derart um sich greift?

Leber: Nein, das hat mich überrascht. Bloomberg hatte damals mit Nettoausfällen von 400 bis 600 Milliarden US-Dollar gerechnet. Die Banken wurden meines Wissens dann in den Folgejahren überkapitalisiert mit rund 1.500 bis 2.000 Milliarden Dollar. Würde man heute eine Schlussabrechnung machen, käme man wohl eher auf 500 als auf 2.000 Milliarden Schaden aus der Subprime Krise. Das heißt aber auch, dass ein besseres Konkursmanagement zu einem geringeren volkswirtschaftlichen Schaden geführt hätte. Ich hätte auch nicht gedacht, wie tief gestaffelt die Verwertungs-Futterkette ist. Dass die IKB oder die Depfa an Subprime praktisch zugrunde gehen würden, hatte ich niemals erwartet. Und dass es Jahre und nicht Monate dauert, die Krise durchzustehen, hat mich ebenfalls verwundert.

Welchen Fehleinschätzungen sind Sie damals erlegen?

Leber: Wir hatten uns schon etwa ab November 2006 auf die Kreditkrise vorbereitet. Bloomberg hatte schon sehr früh über die Exzesse im Immobilienmarkt geschrieben und die Tabellen mit dem Subprime-Exposure der Banken publiziert. Ab Spätherbst 2006 hatten wir deswegen eine Sicherung im Portfolio, die wir dann im Oktober 2008 mit schönem Gewinn aufgelöst haben. Ich habe mich – wie schon viele andere Male – gewundert, wie lange eine Krise zur Bewältigung braucht. Eigentlich hätte die Krise schon im Mai 2007 mit der Notübernahme von Bear Stearns enden müssen, denn damals lagen alle Fakten für die Aufsichtsbehörden auf dem Tisch. Als Peter Wuffli im Sommer 2007 die UBS verlassen musste, dachte ich: Einer der Sündenböcke wird aus dem Haus gejagt, jetzt ist die Krise vorbei. Mir ist ein vollkommenes Rätsel, warum es in angeblich so transparenten und allwissenden Kapitalmärkten dann noch anderthalb Jahre dauerte, bis alle vorliegenden Informationen über die Subprime-Krise verarbeitet wurden und mit Lehman einen Abschluss fanden. Das betrifft sowohl die handelnden Personen – ich denke da an den unglaublichen Lehman-Chef Dick Fuld – als auch die Aufsichtsbehörden, die Ratingagenturen, die Kapitalmärkte und die Presse.

Im Rückblick: Wo lief das Krisenmanagement der Notenbanken und Politik gut, in welchen Punkten haben die Verantwortlichen versagt?

Leber: Ich nehme die Volkswirtschaftler hinzu, die weder die Bildung der Blase gesehen noch im richtigen Moment Rezepte für die Bewältigung hatten. Die Ausnahme ist die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Ist es nicht Aufgabe der Notenbanken und der Bankenaufsichten, genau diese Art von Krisen zu vermeiden? Stattdessen wurden die Missbräuche geduldet und speziell in den USA die Regulierung vor der Subprime-Krise bewusst gelockert. Wir haben die Krise überstanden, von daher hat das Krisenmanagement funktioniert. Die Liquiditätsbereitstellung durch die EZB war da sicherlich eine wesentliche Maßnahme. Ich habe aber eine marktwirtschaftliche Krisenbewältigung vermisst, die unter anderem erstens Aktionäre risikofreudiger Finanzinstitute mit dem Totalverlust bestraft, zweitens die leichtgläubigen Geschäftspartner dieser Banken stark bestraft, ohne sie zu vernichten, drittens die Ratingagenturen und Prüfungsgesellschaften mit in die Haftung für ihre Versäumnisse nimmt, viertens mit weniger Staatseingriffen auskommt und fünftens die Schuldigen ins Gefängnis schickt.

Die Lehman-Pleite löste eine regelrechte Regulierungsflut aus. Sind die Banken Ihrer Meinung nach inzwischen so stabil, dass sie ein ähnliches Szenario unbeschadet überstehen würden?

Leber: Um ein Haar hätte ich diese Frage bejaht. Privatwirtschaftliche Kreditexzesse finden sich heute nicht im Bankensektor wieder. Aber staatliche Kreditexzesse sind ein toleriertes Risiko der Geschäftsbanken. Wenn eine Großbank in ihrem EZB-induzierten Anlagenotstand italienische oder türkische Staatspapiere in großem Stile hält, dann ist das ein gewaltiges Risiko!

Um die Banken zu retten, mussten die Staaten in großem Stil private Verbindlichkeiten übernehmen. Das führte letztlich zur Schuldenkrise, die immer noch nicht gelöst ist. Wie kann Ihrer Meinung nach ein Ausweg aus dieser Krise aussehen?

Leber: Stimmt das überhaupt? Der Staat hat nur in geringem Umfang Schulden von Banken übernommen, zum Beispiel bei der Commerzbank und teilweise damit unter dem Strich gute Gewinne gemacht, etwa bei den US-Konzernen Fannie Mae, Freddie Mac oder AIG. Der größte Teil der Schuldenaufnahme diente der Staatsfinanzierung, nicht der Bankenfinanzierung. Es gibt an den Kapitalmärkten nichts geschenkt. Darum glaube ich nicht, dass die Bewältigung der Schuldenkrise kostenlos war. Meiner Ansicht nach werden viele der Staatsschulden nicht bezahlt werden. Letztlich zahlen die Rentner als Hauptgläubiger des Staates langfristig den Preis dafür – über Negativverzinsung und/oder Inflation.

Die 2008 ausgebrochene Finanzkrise war gewiss nicht die letzte. Was könnte der Auslöser der nächsten Krise sein?

Leber: Es gibt eine Vielzahl möglicher Krisenauslöser: Es ist offensichtlich, dass jede Zinsnormalisierung eine riesige Krise auslösen wird. Die kann keiner bezahlen. Unternehmen und Staaten würden in großem Stil in die Knie gehen. Wie wäre es mit einer Liquiditätsverknappung als Folge der Notenbankpolitik? Auch das haben wir lange nicht mehr auf dem Radar gehabt. Donald Trumps Handelskrieg könnte ebenfalls noch erhebliche globale Konsequenzen haben, in einem perfekten Sturm sogar zeitgleich mit dem Brexit. Ein Türkei-Default würde in Europas Finanzszene erhebliche Schäden bewirken. Mein sicherster und wahrscheinlichster Tipp ist aber eine langsam beginnende und dann nicht mehr zu stoppende hohe Inflation. (bm)