Nachdem zuletzt die Europäische Zentralbank (EZB) die Euro-Leitzinsen unverändert ließ, erwarten die Märkte auch bei der am Mittwoch (1.11.) anstehenden US-Zinsentscheidung keine Zinserhöhung. Allerdings könnten der starke Arbeitsmarkt und die Teuerung die Notenbank zwingen, im Dezember nochmals nachzulegen.

Aktuell steht der US-Leitzins – die Fed Funds Target Rate – bei 5,25 bis 5,5 Prozent. Die Fed hat gute Gründe, bei der nächsten Zinsentscheidung abzuwarten, glaubt Ethenea-Portfoliomanager Volker Schmidt: "Zum einen wirkt die Veränderung der Geldpolitik mit einer flexiblen und unter Umständen langen Zeitverzögerung, zum anderen sind bereits Fortschritte bei der Inflationsbekämpfung zu beobachten." Die US-Teuerung lag im September bei 3,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Damit stiegen die Preise zwar langsamer als vor Monaten, aber noch immer deutlich rascher als die von der Fed angepeilten zwei Prozent. 

Starke Wirtschaft, robuster Arbeitsmarkt
Die US-Wirtschaft zeigt sich zugleich weiter stark: Das US-Bruttoinlandsprodukt stieg im dritten Quartal auf Jahresbasis um 4,9 Prozent, und auch der US-Arbeitsmarkt zeigt sich weiter sehr robust. Das deutet zwar auf eine sanfte Landung hin, doch damit dürfte auch die Inflation tendenziell langsamer zurückgehen als von der Fed gewünscht. Zugleich schüren die geopolitischen Spannungen Sorgen vor höheren Energiepreisen.

Christian Scherrmann, US-Volkswirt bei der DWS, sagt: "Die Unsicherheiten für die Zentralbanker sind nach wie vor groß und haben seit der letzten Sitzung höchstwahrscheinlich sogar noch zugenommen." Mark Dowding, Anlagestratege bei RBC Bluebay Asset Management, sagt: "Die Stärke der US-Wirtschaft erhöht unserer Meinung nach das Risiko, dass die US-Notenbank die Zinsen weiter anheben muss, um die Nachfrage zu dämpfen und die Inflation auf zwei Prozent zu senken." 

Ähnlich sieht das François Rimeu, Stratege beim Asset Manager La Française: "Um eine in der Wirtschaft verankerte Inflationsspirale zu beenden, wie sie derzeit in den USA entsteht, ist historisch gesehen mindestens eine starke Konjunkturabschwächung und in den meisten Fällen eine Rezession erforderlich." Er glaubt auch, dass die US-Regierung mit ihren hohen Staatsausgaben die Teuerung weiter antreibt: "Solange die US-Regierung eine expansive Fiskalpolitik betreibt, wird die Fed keine andere Wahl haben, als ihre restriktive Geldpolitik fortzusetzen, um eine Überhitzung der Wirtschaft und eine anhaltende Inflation zu verhindern."

Renditeanstieg bei US-Anleihen hilft der Fed 
Unterstützung erhalten die US-Notenbanker zurzeit vom Anleihenmarkt: Der jüngste Renditeanstieg verstärkt die restriktive Wirkung der Geldpolitik zusätzlich. Die Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen ist seit der Fed-Sitzung im September um mehr als 50 Basispunkte gestiegen und erreichte zum ersten Mal seit 2007 zeitweise die Marke von fünf Prozent. 

Ob und wie stark Fed-Chef Jerome Powell den Renditeanstieg bei der Pressekonferenz im Anschluss an den Zinsentscheid thematisieren wird, ist für Charles Diebel, Leiter Fixed Income bei Mediolanum, ein wichtiges Indiz für die künftige Fed-Richtung.

Für Bluebay-CIO Dowding geht es allerdings nicht nur um den Gipfel der Leitzinsen, sondern der US-Renditen insgesamt: Er fragt sich, ob fünf Prozent bei den Renditen zehnjähriger US-Staatsanleihen der Höhepunkt oder nur ein "Etappenziel auf dem Weg zu sechs Prozent und mehr" sind. Dowding warnt: "Wir sehen allmählich Anzeichen für Risse an den Aktien- und Anleihemärkten." Wenn die Renditen weiter steigen, könnte seiner Ansicht nach auch eine größere Marktkorrektur stattfinden. (jh)