"Die erste und einfachste Phase des Platzens der Blase, die wir bereits vor einem Jahr angekündigt hatten, ist abgeschlossen", erklärt Investorenlegende Jeremy Grantham, Mitbegründer der US-Fondsgesellschaft GMO. Die spekulativsten Wachstumstitel, die den Markt auf seinem Weg nach oben angeführt hatten, seien regelrecht zerschlagen worden. Damit sei es zu einem Großteil der Verluste an den Märkten, vor denen seine Gesellschaft vor gut einem Jahr gewarnt hatte, bereits gekommen.

Angesichts der außergewöhnlichen spekulativen Euphorie, die damals unter Investoren geherrscht habe, sei dies so gut wie sicher gewesen. Die negativen Überraschungen des vergangenen Jahres, vom Krieg in der Ukraine bis hin zum weltweiten Inflationsschub, habe es gar nicht gebraucht, um die Märkte auf einen deutlichen Abwärtskurs zu schicken, ist Grantham überzeugt.

Es wird komplizierter
"Jetzt werden die Dinge allerdings komplizierter", so der US-Stratege. Denn trotz der jüngsten Kursrückgänge würden sich die Bewertungen immer noch weit oberhalb ihrer langfristigen Durchschnittswerte bewegen. Außerdem hätten die Kurse in der Vergangenheit in aller Regel bis weit unter die Trendlinie überkorrigiert, wenn sich die Fundamentaldaten erst einmal verschlechtert hätten.

Ein solches Szenario sei auch diesmal nach wie vor sehr wahrscheinlich, so Grantham, der aber ergänzt: "Angesichts der Komplexität einer sich ständig verändernden Welt sollten sich die Anleger über den Zeitpunkt und das Ausmaß der nächsten Abwärtsbewegung weit weniger sicher sein als bisher." Denn tatsächlich spreche eine Reihe von Faktoren – insbesondere der unterschätzte und starke Präsidentschaftszyklus, aber auch die nachlassende Inflation, die anhaltende Stärke des Arbeitsmarkts und die Wiedereröffnung der chinesischen Wirtschaft – für die Möglichkeit einer Pause oder einer Verzögerung des Bärenmarkts.

Ein verunsicherter Contrarian
"In den nächsten zwölf bis achtzehn Monaten wird es entscheidend darauf ankommen, wie stark sich die Fundamentaldaten der Unternehmen verschlechtern", argumentiert der Fondsmanager. Angesichts dessen verunsichere ihn als ausgeprägten Contrarian die enorme Zunahme von Pessimismus und Realismus seit seinen Warnungen von vor gut einem Jahr. Immerhin würden aktuell einflussreiche Marktteilnehmer wie Morgan Stanley oder Goldman Sachs vor einer Rezession und niedrigeren Gewinnen warnen, was sich noch nicht in den Aktienkursen niederzuschlagen scheine.

Ebenso irritierend sei für ihn, dass es sich um eine der am häufigsten vorhergesagten Rezessionen aller Zeiten handeln soll. "Das alles reicht aus, um einen gottesfürchtigen Contrarian nachts schweißgebadet aufwachen zu lassen", so Grantham. Er tröste sich mit den Zahlen zu den Gewinnschätzungen, die von all den möglichen negativen Entwicklungen bisher erstaunlich unbeeinflusst bleiben würden.

Mehr Optimismus bitte!
Deshalb wünsche er sich viel mehr Optimismus, viel mehr jedenfalls als er vor einem Jahr noch fast überall herrschte. Auch wenn für langfristig orientierte Fundamentalanleger als wichtigstes Szenario bestehen bleibe, dass über die nahe Zukunft hinaus die langfristigen Probleme wie Bevölkerungsrückgang, Rohstoffknappheit und zunehmende Schäden durch den Klimawandel die Wachstumsaussichten beeinträchtigen würden. (hh)