Vom Internationalen Währungsfonds abwärts wurden die Ökonomen im vergangenen Jahr von der unerwartet starken Wirtschaft überrascht – vor allem die Vereinigten Staaten als größte Volkswirtschaft der Welt florierten. Laufend wurden die Prognosen von einer anfangs befürchteten Rezession nach oben korrigiert. Zu Recht fragen sich nun Investoren, ob auch dieses Jahr besser wird als erwartet. Karsten Junius, Chefvolkswirt des Vermögensverwalters J. Safra Sarasin, sieht zwar gute Möglichkeiten, um Renditen am Kapitalmarkt zu verdienen, doch die Vorsicht ist sehr groß, wie er bei einem Pressegespräch in Wien sagte. Ein Grund für seine Skepsis ergibt sich aus der Geschichte: "Ein Soft Landing nach einem Zinsänderungszyklus ist möglich, aber historisch eine sehr seltene Angelegenheit", betonte Junius.

Nur einmal, nämlich Mitte der 1990er Jahre, habe es nach dem Ende eines Zinszyklus keine Rezession gegeben. "Der Markt ist aber so positioniert, dass er das beste aller Szenarien erwartet", gibt Junius zu bedenken. US-Aktien haben zuletzt wieder stark zugelegt und befinden sich auf Höchstständen; die Gewinnerwartungen der Investoren für die kommenden zwölf Monate am US-Markt liegen irgendwo zwischen vier und fünf Prozent. Und auch die Credit Spreads für Anleihen entwickelter Märkte handeln unter ihren historischen Mittelwerten, was wiederum impliziert, dass die Stimmung der Investoren gut ist und sie keinen deutlichen Wirtschaftsdämpfer erwarten. "Tatsächlich sind der November und der Dezember des vergangenen Jahres sehr positiv verlaufen. Nun schreiben das alle in ihren Erwartungen fort. Aber man muss darauf vorbereitet sein, dass es auch anders kommen kann", so Junius.

Positiver Drive für Aktien eher erst im zweiten Halbjahr
Im Anleihenbereich hält sich Safra Sarasin momentan aufgrund der schwachen Makroökonomie eher an das sichere Investment-Grade-Segment, bei Aktien geht man davon aus, dass sich ein positiveres Bild vor allem im zweiten Halbjahr materialisieren könnte – besonders gestützt durch Zinssenkungen, die das Team um Junius seitens der US-Fed bereits im zweiten Quartal erwartet. Die Liquidität hält der Vermögensverwalter momentan hoch, um flexibel zu bleiben. "Wir wollen keine Untergewichtung bei Aktien haben, aber die Lage ist momentan alles andere als eindeutig. Wir gehen nicht all-in. Das heißt auch, dass wir Cash übergewichtet haben, um auf beiden Seiten zu investieren", so Junius.

Nicht nur ist es historisch selten, dass Zinsänderungszyklen ohne Konsequenzen vorübergehen. Gegen global zu rosige Konjunkturaussichten sprechen auch andere Warnsignale: So sind etwa die Zahlungsausfälle der privaten Haushalte in den USA seit 2022 rapide auf ein mehr als zehnjähriges Hoch angestiegen. Insgesamt ist die US-Wirtschaft noch nicht dort, wo sie sein sollte, wie Junius betont. Er bleibt insbesondere vorsichtig, weil keineswegs klar sei, dass die Inflation wirklich gebannt ist.

"Dienstleistungsinflation muss sinken"
Während die Güterpreise tatsächlich nachhaltig gesunken sind, weil China nach dem Ende des Pandemieschocks wieder den Markt mit günstigen Produkten versorgt, sind die Probleme am US-Arbeitsmarkt nicht ausgeräumt. Nach wie vor herrscht hoher Arbeitskräftemangel, was wiederum die Löhne nach oben treibt. Die Dienstleistungsinflation müsse sinken, damit wirklich von einem stabilen Rückgang der Inflation gesprochen werden kann, betonte Junius.

In Europa wiederum hebt die Wirtschaft nach Covid nicht so ab, wie sie sollte – soll heißen, sie hat sich zwar bekanntlich noch im Pandemiejahr 2020 in einer "V"-Bewegung rasch erholt. Das Wachstum konnte aber nicht (wie etwa in den USA) wieder an den Trend anschließen, der von 2015 bis 2019 vor Covid zu beobachten war. Dennoch ist nicht alles schlecht in Europa; die Binnennachfrage im Euroraum dürfte angesichts der sinkenden Inflation immerhin von den steigenden Reallöhnen profitieren. Auch Chinas Wirtschaft wird in Europa spürbare Beiträge liefern – in die eine oder andere Richtung: Die Nachfrage nach europäischen Produkten wirkt ebenso unterstützend wie die günstigen Importe aus China, was inflationsdämpfend wirkt, umgekehrt aber natürlich den Wettbewerb in Europa erhöht.

Ernüchterung über China
Apropos China: Das vielgelobte Wachstum in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt beeindruckt Junius kaum mehr. Eher ist Ernüchterung eingekehrt. "Wir werden nicht noch einmal den Fehler machen, China überzugewichten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass man trotz hohen Wachstums am Ende nicht viel verdient", so der Experte, der damit auf die zahlreichen Marktkrisen hinweist. Real bleibe den Investoren letztendlich trotz schwächeren Wachstums in den USA mehr.

Mit deutlichen Worten kritisiert er auch Europas Wirtschaftspolitik: "Europa ist ein schrumpfender Kontinent. Das mag nicht unserem Selbstverständnis entsprechen, aber in Kundengesprächen sehen wir, dass hauptsächlich USA und China von Interesse sind", so Junius. Man sehe wenige Beispiele, wo die Industriepolitik gut funktioniert. "Es sind oft die schrumpfenden Industrien, die am lautesten nach Förderungen schreien. Wir geben das Geld falsch aus", so Junius. (eml)