Was hat den Erdöl-Crash vom 20. April, der den Future-Preis eines Fasses WTI in negatives Terrain drückte, wirklich verursacht? Die meisten Beobachter gehen von Engpässen bei den Lagerkapazitäten aus. Marco Dunand, Chef des Genfer Rohstoffhändlers Mercuria, sieht das etwas differenzierter.

Im Gespräch mit der "Neuen Zürcher Zeitung" (NZZ) macht er den massenhaften Einstieg von schlecht informierten und obendrein ungeübten Retail-Investoren für den Eintritt des "für die meisten Undenkbaren“, wie es Dunand formuliert, verantwortlich. "Diese handeln nicht professionell mit Öl, sie sind aber der Überzeugung, dass der Ölpreis nach der Pandemie nach oben gehen wird. Für diese Investoren gibt es viele Instrumente wie börsengehandelte Indexfonds oder ETCs."

Laut dem Schweizer gehört rund die Hälfte der Marktteilnehmer, die auf steigende Preise wetten, zu dieser Gruppe von Investmentlaien, die über die unterschiedlichen Anlageregeln und Funktionsweise der einzelne Produkte oft nicht Bescheid wissen. Was laut Durand zu Problemen führen kann, ist der Mechanismus, wonach "Futures-Kontrakte für WTI einen Monat laufen. Bei Verfall wird das Erdöl geliefert. Wenn man das nicht will, muss vor dem Verfall in einen Kontrakt für Monate in der Zukunft gerollt werden.“

Das Undenkbare
Das kann zu ernsten Problemen führen. Die Situation im April schildert Dunand gegenüber der Zeitung so: "Wir konnten sehen, dass am WTI-Markt die offenen Positionen vor dem Verfallstag ungewöhnlich groß waren. Offene Positionen zeigen die Anzahl ausstehender Kontrakte an. Wir wussten aber nicht genau, wer dahintersteht." Diverse Indexfonds hätten nach ihren eigenen Regeln den Kontrakt für den laufenden Monat verkaufen und Wertpapiere für andere Monate kaufen müssen, damit sie kein Öl ausgeliefert bekamen. Doch niemand habe erwartet, dass diese Positionen der Finanzinvestoren so gross waren. "Der Markt wurde vor dem Verfallstermin des Mai-Kontrakts überrascht und der Preis einfach zu einer Zahl, ohne Verbindung zu irgendetwas.“

Die meisten Rohstoffhändler oder Raffinerien hätten vorgebene Limits bei der Anzahl von Kontrakten, die sie halten dürfen. Für Retail-Investoren gelte das nicht. Laut Dunands Ansicht sollte dies schnellstens geändert werden. China beispielsweise habe Privatanlegern bereits untersagt, in den laufenden Kontrakt für WTI zu investieren. "Die Fonds haben ihre Lehren daraus gezogen." 

Gut gefüllt, aber nicht überfüllt
Lager-Engpässe konnte Durand vor diesem Hintergrund nicht beobachten. Er geht sogar davon aus, dass noch Kapazitäten für bis zu 300 Millionen Fass Erdöl an Land verfügbar sind. Diese befänden sich aber häufig an Orten, die relativ schwer zu erreichen sind. Dann könne Öl auch in Tankschiffen gelagert werden. Angesichts dessen und der jüngst ausgehandelten "Opec+“-Abkommen geht Duran von einer Stabilisierung des Marktes aus, "wenn diese Vereinbarung eingehalten wird und es zu keiner zweiten Welle der Corona-Pandemie kommt." (hw/ps)