Japans Wirtschaft ließ zuletzt mit aufs Jahr gerechnet sechs Prozent Wachstum alle anderen Industriestaaten hinter sich. Auch der japanische Aktienmarkt ist im Höhenflug: Der Nikkei-225-Index stieg dieses Jahr um bis zu 30 Prozent und erreichte den höchsten Stand seit 1990. Nun hofft das Land, nach drei Jahrzehnten die Spirale aus schwachem Wirtschaftswachstum und deflationärer Preisentwicklung zu durchbrechen.

Die Chancen dafür stehen gut, glaubt Nikko-AM-Portfoliomanager Junichi Takayama. Im Interview mit FONDS professionell ONLINE erklärt der Japanexperte, auf welche Signale Investoren achten sollten und warum er den japanischen Aktienmarkt auch nach den Kursanstiegen dieses Jahr für sehr attraktiv hält.


Herr Takayama, über Jahre hinweg schien Japan vom Radar internationaler Investoren verschwunden zu sein. Doch seit einigen Monaten steht die Tokioter Börse wieder im Zentrum des Interesses. Oder täuscht dieser Eindruck?

Junichi Takayama: Viele unserer Kunden interessieren sich tatsächlich sehr für Japan. Meiner Meinung nach völlig zu Recht, denn es ist gerade vieles in Bewegung – in der Politik und auch in den Firmen selbst.

Die japanische Wirtschaft hat dieses Jahr alle Erwartungen übertroffen. Woher kommt das plötzliche Wachstumswunder?

Takayama: Bei dem jüngsten Aufschwung kommen mehrere Faktoren zusammen. Einmal ist der Außenhandelsüberschuss deutlich gestiegen. Das hat für einigen Schub gesorgt. Übrigens lag das nicht nur an den Exporten, sondern auch an den gesunkenen Importausgaben aufgrund der günstigeren Rohstoffpreise. Hinzu kommen in Japan starke Effekte der Wiedereröffnung nach Corona. Alle sprachen immer von China, aber auch Japan hatte sehr strenge Maßnahmen. In diesem Jahr ließ die Regierung sämtliche Restriktionen fallen.

Wird Japan den aktuellen Schwung nutzen können, um sich dauerhaft aus der Spirale geringen Wachstums und sinkender Verbraucherpreise zu katapultieren?

Takayama: Ich bin optimistisch, dass wirklich eine Preisdynamik in Gang kommt. Die Situation in Japan ist ganz anders als in den USA oder Europa, wo man die Inflation bremsen möchte. Japans Geld- und Fiskalpolitik kämpft dagegen seit Jahrzehnten für mehr Inflation. Dieses Jahr sehen wir zum ersten Mal signifikante Lohn- und Preisanstiege. Zuvor hatte auch die Regierung die Unternehmen zu Lohnerhöhungen aufgerufen. Besonders wichtig: Auch die langfristigen Inflationserwartungen sind gestiegen. Ob die Preisdynamik anhält, können wir aber mit Sicherheit erst sagen, wenn die Gewerkschaften gegen Jahresende ihre Pläne für die nächste Lohnrunde offenlegen. Auch das Wirtschaftswachstum dürfte sich fortsetzen, wenn auch nicht auf dem Niveau des ersten Halbjahres.

Wird die Bank of Japan (BoJ) ihren lockeren Kurs weiter beibehalten?

Takayama: Die BoJ hat sich bislang darauf beschränkt, die Bandbreite für die Staatsanleihen-Renditen zu lockern, sodass die Renditen zehnjähriger Anleihen um bis zu 100 Basispunkte steigen können. Zuletzt sagte BoJ-Gouverneur Kazuo Ueda, dass die Geldpolitik auf absehbare Zeit unterstützend bleiben wird. Das ist gut, noch wichtiger aber ist die Lohnentwicklung. Wir achten daher besonders auf die anstehenden Diskussionen innerhalb der Gewerkschaften.

Wie sind die Bewertungen am japanischen Aktienmarkt nach den bisherigen Kursanstiegen

Takayama: Japanische Aktien notieren im Durchschnitt weit unter amerikanischen Aktien bei einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 14 und einem Buchwert von 1,3. Und das ist nur der Durchschnitt, also der Blick auf die Oberfläche. Blicken wir darunter, dann handelt die Hälfte der Aktien sogar unter Buchwert.

Woran liegen diese günstigen Bewertungen?

Takayama: Viele japanische Firmen haben in der Vergangenheit nur sehr wenig für ihre Aktionäre getan und sich nicht gerade investorenfreundlich verhalten. Die Tokioter Börse hat am Anfang dieses Jahres vor allem die unter Buchwert notierenden Firmen aufgerufen, bessere und aktionärsfreundlichere Finanzstrategien zu entwickeln. Darauf haben laut Börse bislang etwa 30 Prozent reagiert, die anderen werden folgen.

Wird das diese Aktien weiter unterstützen?

Takayama: Viele dieser Firmen haben sich bislang nicht um ihre Aktionäre geschert. Die Überkreuzbeteiligungen schützten sie zugleich vor aktivistischen Aktionären und feindlichen Übernahmen. Nun wird diese Verflechtung nach und nach abgebaut. Der Druck auf die Firmen nimmt zu, und auch die Regierung ist zunehmend offen für Übernahmen ohne vorherige Zustimmung. Das wird auch dazu führen, dass die Bewertungen am japanischen Aktienmarkt langfristig steigen.

Wer dominiert den japanischen Aktienmarkt? Japanische oder ausländische Investoren?

Takayama: Rund zwei Drittel der Handelsumsätze finden durch ausländische Investoren statt. Sie dominieren also klar den Handel. Wenn wir uns aber die Aktienbestände ansehen, dann ist das genau andersherum: Japanische Investoren halten zwei Drittel des Aktienbestandes.

Sehen Sie angesichts der neuen Popularität die Gefahr, dass Japans Aktienmarkt überhitzt?

Takayama: Im Jahr 2015 etwa investierten Ausländer 20 Billionen Yen (130 Milliarden Euro) in japanische Aktien, in den Folgejahren gingen die Netto-Investments deutlich zurück. In diesem Jahr sind sie bislang auf sieben Billionen Yen (45 Milliarden Euro) gestiegen. Das zeigt: Japans Aktienmarkt ist nicht überhitzt und hat weiter Luft nach oben. Angesichts so vieler Aktien unter Buchwert ist er de facto deutlich unterbewertet.

Welche Unternehmen oder Branchen in Japan sind Ihrer Meinung nach besonders aussichtsreich?

Takayama: Wir gehen auf Einzeltitelbasis vor. Wir mögen unter anderem Firmen, die gut in Bereichen positioniert sind, in denen andere japanische Unternehmen Unterstützung brauchen – etwa wegen des Fachkräfte- und Angestelltenmangels. Dazu zählen beispielsweise Callcenter, aber auch IT-Dienstleister, die zu Produktivitätssteigerungen beitragen können. Uns gefallen auch Titel mit Konzern-Discount, die mit Umstrukturierungen Werte freisetzen können, sowie Finanzwerte, die von der Normalisierung der Finanzbedingungen profitieren dürften.

Der US-Investor Warren Buffett stieg jüngst massiv in den Einzelhandel ein. Sie nicht?

Takayama: Wir investieren in einige Einzelhändler, die von der Wiedereröffnung profitieren. Und wir setzen auf die Tourismusbranche. Die Touristenzahlen sind wieder bei 86 Prozent des Vor-Pandemie-Niveaus – und das, obwohl die chinesischen Touristen noch weitgehend ausbleiben. Wegen der Schwäche des Yen geben die ausländischen Besucher auch pro Kopf deutlich mehr Geld aus.

Führende Indizes wie der S&P 500 aus den USA haben eine starke Tendenz zu den Tech-Megacaps. Wie diversifiziert ist der japanische Aktienmarkt? 

Takayama: Im S&P 500 macht Technologie fast 30 Prozent aus, im Topix nur zwölf Prozent – also nicht einmal die Hälfte. Die Schwergewichte im Topix sind Industriewerte mit 24 Prozent und Konsumgüter mit 19 Prozent. Dazu zählen viele Maschinen- und Autohersteller sowie Zulieferer. Auch die jüngste Rally wurde von sehr vielen Werten getrieben, wobei die Large Caps und Value-Werte am kräftigsten gestiegen sind.

Und was sind die Hauptrisiken für den japanischen Aktienmarkt?

Takayama: Der größte Risikofaktor ist sicherlich die Geldpolitik. Wenn die Preise nachhaltig steigen, hat die Notenbank die schwierige Aufgabe der Normalisierung vor sich. Ein unerwarteter Wechsel könnte den Anleihenmarkt und die Währung treffen und damit auch die Aktienmärkte. Deshalb glaube ich, dass die BoJ sehr vorsichtig vorgehen wird.

Vielen Dank für das Gespräch. (jh)