Seit Wochen werden die Stimmen all jener lauter, die angesichts hoher Inflationsraten von der EZB fordern, es ihrem Pendant in den USA gleichzutun und die Märkte zumindest verbal auf eine bevorstehende Erhöhung der Leitzinsen vorzubereiten. Doch wenn Christine Lagarde und ihre Ratskollegen mit ihrem Beschluss vom Donnerstag (3. Februar) eines gezeigt haben, dann, dass sie es mit der festgeschriebenen Unabhängigkeit der Notenbank sehr ernst nehmen – und sich von niemandem reinreden lassen.

Trotz galoppierender Verbraucherpreise, die im Januar europaweit um 5,1 Prozent kletterten, beließen die Währungshüter den Leitzins auf dem Rekordtief von null Prozent. Und auch das bleibt gleich: Geschäftsbanken müssen weiterhin "Strafzinsen" von 0,5 Prozent berappen, wenn sie überschüssige Liquidität bei der Notenbank parken, allerdings unter Beibehaltung großzügiger Freigrenzen.

Auf der Pressekonferenz schlug die EZB-Präsidentin aber nachdenkliche Töne an, wie "Tagesschau.de" beobachtet hat. Im Rat herrsche "einhellige Besorgnis" über die nach wie vor stark steigenden Preise. "Die Inflation wird wahrscheinlich länger als bisher gedacht erhöht bleiben, aber sich abschwächen im Laufe dieses Jahres", bleibt Lagarde zuversichtlich. Drängen lassen wolle man sich zu nichts, stellt die Französin klar. Neue Hochrechnungen zur Teuerung wollen die EZB-Volkswirte erst im März vorlegen. Frühere Aussagen, wonach eine Zinsanhebung in diesem Jahr ausgeschlossen sei, bekräftige Lagarde indes nicht mehr – woraus einige Beobachter ableiten, dass eine Wende noch 2022 wahrscheinlich wird.

Zinserhöhungsszenario verschreckt Börsianer
"Dies kann man getrost als Indikation dafür interpretieren, dass nun auch für die Eurozone die Diskussion über einen schnelleren Ausstieg aus der ultra-expansiven Geldpolitik an Fahrt gewinnt. Eine erste Zinserhöhung noch in diesem Jahr scheint damit ein realistisches Szenario zu werden", meint die DWS-Ökonomin Ulrike Kastens. "Die EZB öffnet die Tür einen Spalt weit für ein Ende der Nullzinspolitik", pflichtet ihr Thorsten Polleit bei, der Chefvolkswirt des Goldhändlers Degussa. Und Jörg Angelé, Senior Economist bei Bantleon, ergänzt: "Während der Pressekonferenz brannte Lagarde ein Feuerwerk an Argumenten ab, die ultraexpansive Geldpolitik bald neu zu adjustieren. Genau genommen schloss sie Leitzinsanhebungen im laufenden Jahr nicht nur nicht mehr aus, sondern zeigte stattdessen einen konkreten Weg zu diesen auf."

Am Frankfurter Parkett kamen Lagardes Ausführungen entsprechend schlecht an: Der Dax rauschte bis zum Handelsschluss (der seit ein paar Wochen erst um 22 Uhr stattfindet) um rund 1,6 Prozent abwärts. Zuvor hatten zahlreiche Auguren gemutmaßt, dass sich Anleger auf wenigstens eine Leitzinserhöhung in diesem Jahr mental längst eingestellt hätten – dem war offenbar nicht so.

Tadel und Lob
Mit Kritik an der Sowohl-als-auch-Taktik der Währungshüter halten einige Kommentatoren nicht hinterm Berg. "Die EZB läuft der Zeit hinterher und zögert mit den notwendigen Vorbereitungen für eine Zinswende. Ein klares Signal der EZB würde den Finanzmärkten, aber auch den Tarifparteien zeigen, dass die Geldpolitik rechtzeitig handeln wird, falls die hohe Inflation länger anhalten sollte", sagt Andreas Martin, Vorstandsmitglied beim Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR). Ins gleiche Horn stößt Christian Ossig, der Hauptgeschäftsführer des Bankenverbandes: "Die Geldpolitik bleibt unangemessen expansiv. Das Risiko, dass die EZB noch in diesem Jahr abrupt umsteuern muss, steigt erheblich."

Doch es gibt auch beipflichtende Worte. "Mit Lagardes Bereitschaft, wachsam zu sein und flexibel zu handeln, hat sich das Fenster für eine Verschärfung der Geldpolitik weit geöffnet. Gut so: Die EZB hat begriffen!", sagt Targobank-Chefvolkswirt Otmar Lang. "Die EZB hat eine durchaus vernünftige Entscheidung bekanntgegeben", meint auch David Wehner vom Vermögensverwalter Do Investments. "Als Notenbank kann sie an den grundsätzlichen Preistreibern wie Logistikengpässen oder teuren Energiepreisen nicht viel ändern. Ein zu schneller Ausstieg aus den Anleihekaufprogrammen oder sogar in Richtung von Zinserhöhungen würde also an den hohen Preisen kaum etwas ändern, zugleich aber das Risiko einer Stagflation deutlich vergrößern." Der Portfoliomanager erinnert allzu Ungeduldige daran: "Es ist erst Anfang Februar, und das Jahr ist noch lang!" (ps)