Aus Kapitalmarktsicht könnte ein Brexit holpriger verlaufen als gedacht – oder es passiert schlicht nichts! Das sind die beiden Extremszenarien, die Carsten Klude ausgemacht hat. Wie auch immer: In beiden Fällen, so der Chefvolkswirt der Privatbank M.M. Warburg, dürfte die Verliererin am Ende Europa heißen – und nicht etwa das abtrünnige Vereinigte Königreich.

Um die aktuelle Haltung der Brexit-Befürworter nachvollziehen zu können, hilft ein Blick ins Geschichtsbuch. "Als Großbritannien Anfang der 70er Jahre der Europäischen Gemeinschaft beitrat, geschah das nicht aufgrund tiefer europapolitischer Überzeugungen, sondern pragmatischer Erwägungen", ruft Carsten Klude in Erinnerung. Es sei um nichts anderes gegangen, als Zugang zu einem großen Binnenmarkt zu erhalten. "Für die Briten war und ist Europa eine Freihandelszone, während alle anderen Aspekte eher als Last und Nachteil empfunden werden", sagt der Chefvolkswirt der Privatbank M.M. Warburg.

Dementsprechend fordere beispielsweise Londons Bürgermeister Boris Johnson, jetzt aus der EU auszutreten, um in nachgelagerten Verhandlungen wieder den Status eines Mitglieds der Freihandelszone zu werden, ohne aber sonstige Rechte oder Pflichten zu haben. Doch die Wirklichkeit könnte einen anderen Verlauf nehmen, als von Johnson und den meisten anderen Brexit-Fans erhofft.

Kündigung ohne Konsequenzen ruft Neider auf den Plan
"Die EU muss sich fragen, warum sie einem zahlenden Mitglied, das freiwillig aus einem Klub ausscheidet, die für das Mitglied zentralen Klubgüter weiterhin umsonst anbietet". Die EU könne laut Klude gar kein Interesse haben, dies zu tun, denn in diesem Fall müsste so ziemlich jeder Nettozahler der EU hinterfragen, warum er noch als Mitglied in der EU verbleibt, wenn man die Vorteile auch umsonst genießen kann – und dazu noch an Souveränität gewinnt.

Außenhandel muss ökonomisch Sinn machen – nicht politisch
Was aber wären die Konsequenzen am Kapitalmarkt? Nach einer anfänglichen starken Abwertung der britischen Währung könnte das Leben laut Klude normal weitergehen. "Die EU wäre vermutlich verwaltungstechnisch gar nicht in der Lage, Großbritannien innerhalb kurzer Zeit in den Status eines nicht EU-Landes zurückzuversetzen, so dass erst einmal das Wirtschaftsleben weitgehend unverändert stattfindet", meint er.

Wenn es dann zu einem Ausschluss aus dem Binnenmarkt kommt, wird man feststellen, dass der Handel kaum zurückgeht. Der Grund dafür sei einfach: Internationaler Handel komme zustande, wenn er ökonomisch Sinn macht. "Eine Grenze oder die Erhebung von Zöllen ändert wenig an dieser Sinnhaftigkeit, weshalb auch Länder wie die USA oder China trotz Grenzen und Zöllen ihren Handel mit Deutschland stark ausgeweitet haben." Spräche sich herum, dass es möglich ist, die EU zu verlassen, und dass keine substanziellen Blessuren zu erleiden sind, dann habe die EU ein ernsthaftes Argumentationsproblem.

Brexit als britischer Befreiungsschlag
Wer bei diesem ersten Szenario schon schlaflose Nächte bekommt, werde bei dem nachfolgenden Albträume haben, verspricht Klude. "Es ist nicht auszuschließen, dass sich Großbritannien nach einem Brexit und einer Übergangsdauer besonders positiv entwickelt – befeuert von neu gewonnenen Freiheiten und einer schlauen Wirtschaftspolitik." In dem Maße, in dem das "alte" Europa angesichts diverser Herausforderungen wie der Flüchtlingswelle, der massiven Staatsverschuldung und des Reformstaus in eine immer größere Schieflage gerät, könnte sich Großbritannien als von EU-Lasten befreiter, sicherer Hafen für Investoren präsentieren.

Europa in Erklärungsnot
Die Sorge vor einem dahinsiechenden Londoner Finanzplatz wäre in diesem Kontext übertrieben, meint Klude, denn schon die weltweit fast einmalige Ansammlung hochqualifizierter Mitarbeiter in dieser Branche werde dafür sorgen, dass Londons Wettbewerbsfähigkeit erhalten bleibt. "Im Falle einer solchen Erfolgsstory hätte die EU Rechtfertigungsprobleme, die zu einer Existenzkrise führen könnten." So gesehen wäre ein Brexit - wenn er denn käme – viel mehr als ein temporäres Phänomen und Problem für britische Assets und das britische Pfund. (ps)