Marcel Fratzschers Bedeutung als Top-Ökonom in Europa ist unumstritten. Seit der 45-Jährige an der Spitze des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) steht, ist seine Meinung zu wirtschafts- und finanzpolitischen Themen gefragt – er berät SPD-Chef Sigmar Gabriel, aber auch Finanzminister Wolfgang Schäuble und die deutsche Kanzlerin. Fratzscher hat in Kiel, Oxford und Harvard studiert und in Florenz ­promoviert. Seine berufliche Laufbahn führte ihn als Analyst nach Kenia, als Makroökonom beim Harvard Institute for International Development nach Jakarta und schließlich zur Europäischen Zentralbank in Frankfurt, bei der er von 2001 bis 2012 tätig war. Erst Anfang März lieferte sich Fratzscher ein hochinteressantes Rededuell mit Außenminister Sebastian Kurz auf dem FONDS professionell KONGRESS in Wien. Lesen Sie im Anschluss seinen Original-Kommentar.


Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss hat kürzlich die Rekordmarke von 270 Milliarden Euro erreicht; das sind knapp 8,7 Prozent vom BIP. Die laufende Debatte über sein Wirtschaftsmodell hat sich deshalb verschärft. Politiker aus der Eurozone und die Regierung von Donald Trump in den USA schieben sich gegenseitig die Schuld für das wirtschaftliche Ungleichgewicht zu, und alle schimpfen auf den Euro.

Die Trump-Regierung hat Deutschland dafür angegriffen, dass es zu viel exportiere, und hat es beschuldigt, den Euro zu manipulieren. Tatsächlich hat Deutschlands Handelsüberschuss wenig mit dem Euro zu tun, der sich zu einem beliebten Sündenbock entwickelt hat, welcher für andere politische Fehler herhalten muss.

Viele Menschen in Deutschland betrachten die jüngste Welle der Kritik als Zeichen, das andere lediglich neidisch auf den Erfolg ihres Landes sind, und weisen Argumente, das Deutschland versuche, sich einen unfairen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, verärgert zurück. Sie verweisen darauf, dass Deutschland sich nicht an Preisdumping beteilige oder den Export direkt fördere, und dass seine Regierung kein Kursziel für den Euro festlege.

Deutschland habe im Gegenteil vor Einführung der Gemeinschaftswährung Jahrzehnte lang eine Politik der starken D-Mark verfolgt, weil es die deutschen Exporteure ermutigen wollte, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation aufrecht zu erhalten, statt sich auf den Wechselkurs zu stützen. Dies sei das zentrale Merkmal des deutschen Wirtschaftsmodells nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen und der Hauptgrund, warum sein langes Wirtschaftswunder möglich war.

Die Kritik an Deutschlands Handelsüberschuss krankt an drei Fehlannahmen. Zunächst einmal scheinen viele Kritiker zu glauben, dass sich Deutschlands Handelsbilanz systematisch über den Wechselkurs manipulieren ließe. Doch durch die Integration der globalen Wertschöpfungsketten enthalten Industrie-Exporte heute viele importiere Vorleistungen, was bedeutet, dass sich die Auswirkungen von Wechselkursfluktuationen auf Inlandspreise und Handelsbilanz im Laufe der Zeit deutlich verringert haben.

Tatsächlich hat sich Deutschlands bilateraler Handelsüberschuss gegenüber den USA trotz erheblicher Fluktuationen des Euro-Dollar-Wechselkurses – der 2011 einen Höchstwert von 1 €:1,60 $ und in jüngster Zeit ein Tief von 1 €:1,04 $ erreichte – kaum verändert. Der Erfolg Deutschlands als Exportnation beruht nicht auf Währungsmanipulationen, sondern auf seiner starken Marktposition und der Preissetzungsmacht seiner hoch spezialisierten, branchenführenden Fertigungsunternehmen.

Eine zweite Fehlannahme ist, dass Politiker und Notenbanken tatsächlich über die Wechselkurse bestimmen können. In den meisten hoch entwickelten Volkswirtschaften lässt sich der Wechselkurs nicht einfach per Dekret festlegen; vielmehr wird er endogen durch die ihm zugrundeliegende Realwirtschaft und den Zustand des Finanzsystems bestimmt. Die Devisenmärkte sind zu tief, als dass direkte Interventionen das Risiko wert wären; die Schweizerische Nationalbank hat das vor ein paar Jahren feststellen müssen, als sie versuchte, sich der Aufwertung des Franken entgegenzustemmen. Das US-Finanzministerium hat es in den 1990er-Jahren aufgegeben, am Devisenmarkt zu intervenieren, und die Europäische Zentralbank hat dies nur einmal, im Jahr 2000, sehr kurzzeitig versucht.

Vorwürfe, dass US Federal Reserve und EZB unkonventionelle politische Maßnahmen zur Schwächung ihrer jeweiligen Währung verfolgt hätten, übersehen, dass Wechselkursschwankungen nur eine begrenzte, kurzzeitige Wirkung auf die Inflation im Lande, die Exporte und das Wachstum haben. Das Handeln beider Notenbanken wird von ihrem Mandat bestimmt, nicht von einem ausdrücklichen oder stillschweigenden Wechselkursziel.

Eine dritte, einem häufig auf deutscher Seite der Debatte begegnende Fehlannahme ist, dass die Leistungsbilanz eines Landes die Konkurrenzfähigkeit seiner Exporte widerspiegele. In Wahrheit wird die Außenbilanz eines Landes durch seine Prioritäten und intertemporalen Spar- und Investitionsentscheidungen bestimmt. Fundamentalfaktoren wie die demografische Entwicklung in Deutschland allein dürften nur für etwa drei Prozentpunkte (d. h. rund ein Drittel) des aktuellen deutschen Leistungsbilanzüberschusses verantwortlich sein.

Wie diese drei Fehlannahmen zeigen, sollte es bei der Debatte über Deutschlands Außenhandelsüberschuss nicht um den Euro-Wechselkurs oder die deutschen Exporte gehen. Weder ist der Euro zu schwach noch sind die deutschen Exporte zu hoch. Das Problem ist vielmehr, dass aufgrund der enormen deutschen Investitionslücke die deutschen Importe zu niedrig sind.

Deutschland weist eine der niedrigsten Quoten für öffentliche Investitionen in der industrialisierten Welt auf. In seinen Kommunen, auf die die Hälfte aller öffentlichen Investitionen entfällt, besteht derzeit ein Investitionsstau von 136 Milliarden Euro oder 4,5 Prozent vom BIP; Deutschlands Schulgebäude allein haben einen Reparaturbedarf von weiteren 35 Milliarden Euro. Zugleich wurden die privaten Investitionen in Deutschlands alternden Kapitalstock durch das Bestreben vieler deutscher Unternehmen, im Ausland zu investieren, geschwächt.

Diese Lücke ist das Ergebnis politischer Versäumnisse – namentlich einer protektionistischen Politik im Sektor der nicht handelbaren Dienstleistungen. Der Internationale Währungsfonds, die Europäische Kommission und die OECD versuchen seit langem, Deutschland zu einer Deregulierung des Dienstleistungssektors zu bewegen, die Macht der Interessengruppen zu beschneiden und den Wettbewerb zu verbessern. Derzeit jedoch bleiben Löhne, Produktivität und Investitionen im deutschen Exportsektor hoch und im Sektor nicht handelbarer Dienstleistungen niedrig.

Die internationale Debatte über die deutsche Leistungsbilanz sollte sich daher auf Maßnahmen zur Liberalisierung des deutschen Dienstleistungssektors und zum Abbau sonstiger Investitionshemmnisse konzentrieren. Zu diesem Zweck sollte Deutschland seine Digital- und Verkehrsinfrastruktur verbessern, die Marktmechanismen stärken, um zu einem verstärkten Ausbau erneuerbarer Energien zu ermutigen, Maßnahmen gegen den Facharbeitermangel im Lande einleiten, sein Steuersystem ändern, um mehr Investitionsanreize  zu setzen, und seine Rechtsvorschriften reformieren, um die Unsicherheit zu verringern.

Deutschland ist eine zunehmend wichtige politische und wirtschaftliche Macht in Europa und auf der Weltbühne. Doch bisher verläuft die Debatte über den deutschen Leistungsbilanzüberschuss kontraproduktiv. Die Kritik an Deutschlands Exportstärke und Vorwürfe über Währungsmanipulationen sind genauso unangebracht wie Deutschlands eigene Verteidigung seines überzogenen Überschusses. Es liegt im Interesse aller – auch Deutschlands –, dass Deutschland seinen Überschuss abbaut und somit die schädlichen wirtschaftlichen Ungleichgewichte reduziert, die direkt unter der Oberfläche liegen.

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