Die Europäische Zentralbank wird laut ihrer Präsidentin Christine Lagarde die Zinsen wahrscheinlich im Sommer senken. In einem TV-Interview im "Bloomberg"-Haus beim Weltwirtschaftsforum in Davos wurde sie gefragt, ob es eine Mehrheit für einen solchen Schritt geben könnte, da mehrere politische Ratsmitglieder diesen Zeitpunkt bereits signalisiert hätten. "Ich würde auch sagen, dass es wahrscheinlich ist", sagte Lagarde. "Aber ich muss mich zurückhalten, weil wir auch sagen, dass wir datenabhängig sind und dass es immer noch ein gewisses Maß an Unsicherheit und einige Indikatoren gibt, die nicht auf dem Niveau verankert sind, auf dem wir sie gerne sehen würden."

Nur einen Tag vor Beginn der sogenannten Schweigeperiode, die den geldpolitischen Sitzungen der EZB vorausgeht, schloss sich die Präsidentin vielen ihrer Ratskollegen an und versuchte, die Erwartungen an eine baldige Lockerung zu dämpfen, während sie gleichzeitig anerkannte, dass die Währungshüter auf dem Weg sind, die Zinsen letztlich zu senken.

"Sie haben mit einigen von ihnen gesprochen, einige haben sich kürzlich geäußert, jeder von ihnen hat seine eigene Meinung, die ich voll und ganz respektiere", sagte Lagarde. "Wir treffen unsere Entscheidungen in der Regel gemeinsam auf der Grundlage von Daten. Einige von ihnen haben ihre eigenen nationalen Daten, sie haben ihre jeweiligen Inflationsraten, die von Land zu Land unterschiedlich sind."

Unwillkommene Ablenkung
Die aggressiven Wetten der Geldmärkte, die in Zinsswaps deutlich frühere Zinssenkungen einpreisen, sind für die Präsidentin offenbar eine unwillkommene Ablenkung. "Es ist nicht hilfreich für unseren Kampf gegen die Inflation, wenn die Erwartung so ist, dass sie viel zu hoch ist im Vergleich zu dem, was wahrscheinlich passieren wird", sagte Lagarde.

Die Geldmärkte reduzierten nach dem Interview das Ausmaß der eingepreisten Zinssenkungen. Sie gehen nun von 140 Basispunkten bis Jahresende aus, was fünf Senkungen um einen Viertelpunkt entspricht, mit einer 60-prozentigen Chance auf eine sechste. Ende letzter Woche rechneten die Händler noch mit sechs Senkungen. Auch die Überzeugung, dass der erste Schritt bereits im April erfolgen wird, der bisher als sicher galt, hat gelitten.

"Es ist ziemlich klar, dass die Märkte voreilig sind"
Der Chef der niederländischen Zentralbank, Klaas Knot, äußerte sich zeitgleich auf "CNBC" zu den Wetten der Anleger. "Es ist ziemlich klar, dass die Märkte voreilig sind, und das Problem für uns ist, dass dies letztendlich kontraproduktiv werden könnte", sagte er. "Wir sind optimistisch, dass wir eine glaubwürdige Aussicht auf eine Rückkehr der Inflation auf zwei Prozent im Jahr 2025 haben, aber damit das passiert, muss noch viel richtig laufen."

"Wir sind auf dem richtigen Weg"
Lagarde räumte auch ein, dass die Notenbanker mehr Belege brauchen, bevor sie sicher sein können, dass die Verbraucherpreise unter Kontrolle sind. "Wir sind auf dem richtigen Weg, wir bewegen uns auf die zwei Prozent zu. Aber solange wir nicht sicher sind, dass die Inflation mittelfristig dauerhaft bei zwei Prozent liegt und wir die Daten haben, die das belegen, werde ich nicht den Sieg verkünden", sagte sie. "Jetzt noch nicht." (mb/Bloomberg)