In den vergangenen Monaten ist öffentlich die Zinswende beziehungsweise das Ende des Tiefzinsumfeldes ausgerufen worden. Doch es gibt renommierte Skeptiker. "Der Markt geht davon aus, dass wir in den USA kommendes Jahr ein Zinsniveau von drei Prozent sehen werden. Ich wäre sehr überrascht, wenn es mehr als zwei Prozent wären", sagte Jupiter-Anleihenprofi Ariel Bezalel am Dienstag vor Vertretern der Finanzbranche in Wien. Es gebe zu viele Hinweise auf eine drohende Rezession. Folglich hätten die Notenbanken kaum Spielraum für größere Schritte.

So wachse China als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt nicht nur wegen seiner andauernden Pandemie-Lockdown-Politik langsamer. Vielmehr müsse das Land nach dem Platzen der Immobilienblase seinen "Lehman-Moment" verarbeiten. Es werde Jahre dauern, bis die Immobilien-Dominanz am chinesischen Finanzmarkt abgebaut ist, so Bezalel.

Konjunkturdelle in den USA
Auch in der global größten Volkswirtschaft, den USA, zeigten mehrere relevante Indikatoren an, dass es bald zu einer deutlichen Konjunkturschwäche komme, meint Bezalel. Unter anderem signalisierten Auftragseingänge und Neuaufträge, dass der ISM-Einkaufsmanagerindex (ISM Manufacturing PMI), der verlässlichste Frühindikator für die US-Konjunktur, in den kommenden Monaten scharf abfallen dürfte. "Wenn der PMI auf einen Wert von unter 50 zusteuert, wird die Fed nachdenken, ob sie ihre geldpolitische Straffung weiter fortsetzt", so Bezalel. Ein PMI-Wert von über 50 deutet eine steigende Industrieproduktion an, weniger als 50 Punkte lassen eine rückläufige Produktion erwarten. Zuletzt notierte der Index bei rund 55 Punkten.

Dazu komme, dass das US-Konsumentenvertrauen extrem stark gesunken ist. Der hierfür relevante Consumer Sentiment Index der Universität Michigan befindet sich auf einem fast so tiefen Level, wie zur Finanzkrise 2008 beziehungsweise wie zur Euro-Krise 2011. Das Konsumentenvertrauen erwies sich historisch meist als treffsicherer Vorlaufindikator für die Produktion. "Die Konsumenten werden erdrückt von den Lebenshaltungskosten. Die Nachfrage wird zurückgehen", sagte Bezalel. Er sieht "ein steigendes Risiko einer Rezession in den nächsten sechs bis acht Monaten".

Rückgang der Inflation, hohe Schulden, schlechte Demografie
Insgesamt dürfte weltweit die Nachfrage im Rezessionsumfeld abflachen, was wiederum zu einer Entspannung bei der Inflation führen werde. "Wir glauben, dass die Inflation im zweiten Halbjahr deutlich zurückgeht", so Bezalel. Auch dadurch sinkt der Bedarf an Zinserhöhungen.

Zudem erschwere die hohe Staatsverschuldung ein höheres Zinsniveau, da für viele Länder die Refinanzierung bei steigenden Kreditkosten erschwert wird. Langfristig spreche außerdem die Demografie gegen höhere Zinsen. Nach gängiger Annahme benötige man für Wirtschaftswachstum ein steigendes Arbeitskräfteangebot sowie eine ausreichende Masse an konsumfreudigen Altersschichten. Die Demografie entwickelt sich angesichts der fortschreitenden Bevölkerungsalterung aber in die entgegengesetzte Richtung. In diesem Umfeld können die Notenbanken nur schwer Zinsschritte setzen, die die Wirtschaft zusätzlich dämpfen.

Der Trend bei den Zinsen zeigt nach unten
Ein Lower-for-longer-Szenario sei sehr wahrscheinlich, meint Bezalel. Er geht davon aus, dass sich die Zinsen aufgrund der zahlreichen ökonomischen Herausforderungen wieder in die Bandbreite einordnen, die der jahrzehntelange Trend vorgibt – und der zeigt nach unten. Tendenziell sinken die Zinsen seit 40 Jahren, auch wenn es immer wieder Ausreißer gab.

Die US-Notenbank Fed hat im März aufgrund der rasant steigenden Inflation erstmals seit 2018 den Leitzins erhöht, wenn auch zunächst nur um 0,25 Prozentpunkte. Im Mai folgte ein weiterer Schritt um 0,50 Prozentpunkte auf die aktuelle Spanne von 0,75 bis 1,00 Prozent. Damit wuchs auch der Druck auf die Europäische Zentralbank (EZB). Deren Chefin Christine Lagarde signalisierte diese Woche, dass die europäische Notenbank bei ihrer Sitzung am 21. Juli zum ersten Mal seit elf Jahren die Zinsen anheben könnte. Der Hauptrefinanzierungssatz in der Eurozone liegt seit 2016 bei null Prozent. (eml)