In der Nacht vom 14. auf den 15. September 2008 musste Lehman Brothers Insolvenz anmelden. Der Kollaps der US-Investmentbank ließ eine Krise eskalieren, die sich zwar schon abgezeichnet hatte, deren Ausmaß aber die wenigsten erahnt hatten. Zehn Jahre nach diesem einschneidenden Ereignis hat sich FONDS professionell ONLINE bei prominenten Portfoliomanagern umgehört: Wie haben sie die damalige Zeit erlebt? Welchen Fehleinschätzungen sind sie erlegen, und welche Schlüsse zogen sie daraus? Und: Wo lauern heute die größten Risiken für die Finanz- und Wirtschaftswelt?

Die Interviews mit Acatis-Gründer Hendrik Leber, Ethna-Aktiv-Manager Luca Pesarini und DWS-Urgestein Klaus Kaldemorgen wurden schon veröffentlicht. Heute steht der erfahrene Fondsmanager Henning Gebhardt Rede und Antwort, der seit Anfang vergangenen Jahres das Wealth und Asset Management von Berenberg leitet. In den kommenden Tagen folgen Interviews mit Jens Ehrhardt und Frank Fischer.


Herr Gebhardt, wie haben Sie das dramatische Wochenende der letztlich gescheiterten Lehman-Rettung im September 2008 erlebt?

Henning Gebhardt: Ich war zu dem Zeitpunkt dienstlich in New York und habe die Nachricht also direkt vor Ort mitbekommen. Wenn ich mich recht erinnere, war meine erste Reaktion nicht sonderlich stark, schließlich war die Krise schon ein paar Monate alt. Zuvor waren auch immer mal wieder Banken gerettet worden, andere waren pleitegegangen. Ein paar Monate zuvor waren schon Bear Stearns bei JP Morgan untergeschlüpft, Indy Mac zusammengebrochen, Fannie Mae und Freddie Mac unter staatliche Kontrolle gestellt worden. Lehman war einfach ein weiterer Finanzkonzern, für den es eben keinen Retter gegeben hatte – so mein erster Eindruck.

Hatten Sie erwartet, dass die Krise so tief reicht und derart um sich greift?

Gebhardt: Das Ausmaß hat mich überrascht. Die Wirkung der Lehman-Pleite entfaltete sich doch eher langsam und entwickelte auch erst diese gewaltige Wucht, als klar wurde, wie alles miteinander vernetzt und wer wie auf welche Weise betroffen war. Lehman war sicherlich nicht der Auslöser der Finanzkrise, aber rückblickend wirkt es ein wenig wie der eine Dominostein, der die Kettenreaktion dann auslöste.

Welchen Fehleinschätzungen sind Sie damals unterlegen – und was haben Sie daraus gelernt?

Gebhardt: Ich habe die Dimensionen unterschätzt. Als wenige Wochen später dann die Hypo Real Estate vor dem Untergang stand, war mir erst klar, dass wir eine wirkliche globale Krise haben. Das Ganze hat mich sensibilisiert, noch genauer hinzusehen: Wo liegen die Risiken, was kann schiefgehen? Und es hat mir damals auch die Bedeutung von Regulierung und von Corporate Governance deutlich gemacht – auch wenn die Regulierungswut im Finanzsektor inzwischen ein bisschen weit geht.

Im Rückblick: Wo lief das Krisenmanagement der Notenbanken und Politik gut, in welchen Punkten haben die Verantwortlichen versagt?

Gebhardt: Das ist schwierig zu beantworten. Ich denke, die Reaktionen der Notenbanken – etwa die schnelle Liquiditätsversorgung – waren der richtige Weg, um das komplette Austrocknen des Finanzmarktes zu stoppen. Letztendlich gab es ja eine ganze Kette von Versprechungen und Handlungen, die ihren Effekt gezeigt haben. Denken Sie nur an das "Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein" von Angela Merkel oder letztlich auch das "Whatever it takes" von Mario Draghi Jahre später. Ich glaube ,das war richtig. Das erste Agieren war gut, nicht überzeugend finde ich das, was am Ende als Ergebnis steht. Die Regulierung des Finanzsektors ist meiner Meinung nach vielfach überzogen, viele Regeln sind realitätsfern. Auch wurde die Chance auf ein wirklich einheitliches weltweites "Level Playing Field" für die Finanzindustrie verpasst. Die USA waren im Vergleich zu Europa entschiedener in ihren Maßnahmen. Dadurch sind Amerikas Institute enteilt.

Die Lehman-Pleite löste eine regelrechte Regulierungsflut aus. Sind die Banken Ihrer Meinung nach inzwischen so stabil, dass sie ein ähnliches Szenario unbeschadet überstehen würden?

Gebhardt: Sicherlich sind viele Banken inzwischen besser aufgestellt, Regelungen wie der "Living Will" sind sehr sinnvoll. Aber ob das reicht, wird sich zeigen. Ich habe meine Zweifel. Die Krux einer Krise ist ja, dass sie nicht die Blaupause für die nächste Krise ist. Beim nächsten Mal – und es wird ein nächstes Mal geben – stehen die Banken dann vielleicht auf einer Seite blank da, mit der keiner gerechnet hat. Oder es sind gar nicht die Banken, sondern die Versicherungen. Etwas wie Lehman wird sich wahrscheinlich nicht mehr wiederholen, aber es war nicht die erste geplatzte Blase und wird nicht die letzte sein, die das Finanzsystem zum Wanken bringt. Denken Sie nur an die Asien-Krise Ende der 1990er Jahre.

Um die Banken zu retten, mussten die Staaten in großem Stil private Verbindlichkeiten übernehmen. Das führte letztlich zur Schuldenkrise, die immer noch nicht gelöst ist. Wie kann Ihrer Meinung nach ein Ausweg aus dieser Krise aussehen?

Gebhardt: Es ist ja nicht so, dass die Übernahme von Bankverbindlichkeiten viele Staaten in eine Schuldenkrise getrieben hat, das würde ich am ehesten noch für Irland, Island und auch Zypern gelten lassen. Die Kette ist eigentlich eine andere: Die Finanzkrise hat die generelle Risikoaversion an den Finanzmärkten steigen lassen. Dadurch sind hoch verschuldete Staaten wie Griechenland, Spanien oder Italien unter Druck geraten, und die Refinanzierung wurde teuer oder gar unmöglich. Das und die Krisen an den Immobilienmärkten waren für dieses Staaten weitaus dramatischer. Letztendlich hilft dagegen nur ein stabiles Finanzsystem, das sinnvoll aber nicht überreguliert ist und eine verantwortungsvolle Haushaltspolitik der Staaten.

Die 2008 ausgebrochene Finanzkrise wird nicht die letzte gewesen sein. Was könnte der Auslöser der nächsten Krise sein?

Gebhardt: Es wäre toll, wenn man das wissen könnte. Die Schwierigkeit ist, dass solche Ereignisse immer wieder kommen, aber jedes Mal anders aussehen. Oft sind die Probleme sogar lange bekannt, entwickeln dann aber mit einem Mal eine unheilvolle Dynamik. Dass am US-Hypothekenmarkt etwas nicht in Ordnung ist, hatte sich ja schon lange vor Lehman abgezeichnet, nur gesehen haben es die wenigsten. Wir haben das schon Anfang 2006 intern diskutiert. Es hat dann aber noch fast drei Jahre gedauert, bis die Überschuldung ihre Wirkung entfaltet hat. Es ist aber so, dass große Krisen zumeist Schuldenkrisen sind. Sie entstehen im Immobilien-, Unternehmens- oder Staatsbereich. Meist spielen Währungskredite dabei eine große Rolle. (bm)