Herr Ashley, die Europäische Zentralbank (EZB) hat jüngst noch einmal die Zinsen erhöht, die US-Fed pausiert. War es das mit den Leitzinserhöhungen?

James Ashley: Wir glauben, dass die EZB den Zinsgipfel erreicht hat und dasselbe gilt auch für die US-Notenbank. Natürlich haben sich die Notenbanken eine Hintertür offengelassen, falls die Inflation unerwartet doch nochmals steigt. Wir glauben jedoch nicht, dass weitere Zinserhöhungen erforderlich sein werden, und auch die Geldpolitiker selbst scheinen wenig überzeugt zu sein, dass die Zinsen weiter ansteigen müssen. Die Diskussion am Markt wird sich stattdessen verlagern: Ging es bis vor Kurzem noch um die absolute Höhe des Zinsgipfels, so treibt Investoren immer stärker die Frage um, wie lange die Zinsen so hoch bleiben werden.

Und was ist Ihre Antwort darauf?

Ashley: Unserer Meinung nach ist der Markt da zu optimistisch. Wir glauben, dass die Inflation nur langsam zurückgehen wird. Es wird dauern, bis sich die Teuerung nachhaltig wieder der gewünschten Zwei-Prozent-Marke annähert. Deshalb müssen die EZB und auch die Fed die Leitzinsen noch längere Zeit auf diesem Niveau belassen. Also: Zinsgipfel ja, aber keine geldpolitische Kehrtwende – die ersten Zinssenkungen dürften erst weit im Jahr 2024 erfolgen.

Der Markt fragt sich auch, ob die Zentralbanken erfolgreich die Inflation bekämpfen und trotzdem eine Rezession vermeiden können. Was glauben Sie?

Ashley: Eine sanfte Landung ist möglich, aber eher unwahrscheinlich. Wir sehen ein deutliches Risiko einer milden Rezession in den USA und stärker noch in Europa. Die jüngsten Konjunkturdaten legen sogar nahe, dass sich der Euroraum bereits in der Rezession befindet, auch wenn diese nicht sehr ausgeprägt ist. Die US-Wirtschaft hat sich zwar bislang als sehr robust präsentiert. Trotzdem rechnen wir für das vierte Quartal mit einer abnehmenden Dynamik und zunehmender Rezessionswahrscheinlichkeit. Auch hier ist der Markt unserer Meinung nach also zu optimistisch.

Wie dramatisch beurteilen Sie die Lage in Deutschland, das als Euro-Wachstumsschlusslicht gilt?

Ashley: Viele große Volkswirtschaften haben dieselben strukturellen Probleme. Eines davon ist die Alterung der Bevölkerung, damit kämpft Deutschland, aber auch China oder Italien. Das ist jedoch nicht alles. Schauen Sie sich die deutsche Industrie an: Der Höhepunkt der deutschen Industrieproduktion war nicht vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine oder der Corona-Pandemie, vielmehr überschritt sie ihren Zenit bereits 2017 und schrumpft seither. Das ist ein Symptom, das uns zeigt: Die deutsche Wirtschaft durchläuft einen tiefgreifenden strukturellen Wandel, bei dem es um Demografie geht, um die Realwirtschaft, aber auch um andere Faktoren. Deutschland muss diesen Strukturwandel genauso meistern wie andere Volkswirtschaften. Es gibt da schon gute Fortschritte, aber es muss natürlich noch mehr passieren. 

Japan sieht sich seit Jahrzehnten ähnlichen Problemen gegenüber. Zuletzt hat das Wirtschaftswachstum aber positiv überrascht. Ist Japan gerade dabei, die jahrelange Spirale aus Deflation und geringem Wachstum zu überwinden?

Ashley: Wir sehen hier langfristig sehr ermutigende Entwicklungen. Japan verzeichnet gerade als einzige der großen Volkswirtschaften einen deutlichen Anstieg des Wachstums, und auch der Rückgang im kommenden Jahr wird geringer ausfallen als in anderen Ländern. Ganz klar: Die sehr starken BIP-Wachstumsraten des zweiten Quartals lassen sich sicher nicht aufrechterhalten. Über die kommenden zwei bis drei Jahre rechnen wir aber mit einem nominalen BIP-Wachstum von 3,5 Prozent, im Jahrzehnt vor Covid lag das Wirtschaftswachstum gerade einmal bei 1,5 Prozent. Das zeigt die deutlich stärkere wirtschaftliche Dynamik …

… und auch die Inflation kehrt zurück.

Ashley: Tatsächlich sprechen viele Anzeichen dafür, dass die Inflation nachhaltig zulegt. Und das, nachdem die japanische Notenbank und auch die Wirtschaftspolitik 30 Jahre lang gegen sinkende Preise angekämpft haben. Das ist ganz anders als in Europa oder den USA, wo Inflation ein Problem ist. In Japan hat man sich dagegen seit vielen, vielen Jahren genau darum bemüht: Die Verbraucherpreise sollten wieder steigen. Höheres Wachstum und mehr Inflation erzeugen auch für Investoren neue Chancen. Wir halten den japanischen Aktienmarkt aktuell für den attraktivsten Aktienmarkt weltweit unter den Industrieländern. Um nochmals auf Deutschland zurückzukommen: Japan zeigt uns, dass ein Land auch in einem Umfeld struktureller Herausforderungen Erfolge verzeichnen kann und dass es dabei gute Gelegenheiten für Investoren gibt. Und Deutschlands Themen sind weitaus kleiner als die Japans.

Mit einer ganzen Reihe an Problemen schlägt sich auch China herum. Aktienanleger machen derzeit einen großen Bogen um das Land. Wie schätzen Sie die Chancen und Risiken bei China-Aktien ein?

Ashley: Bei China muss man deutlich zwischen dem kurz- und langfristigen Ausblick unterscheiden. Aktuell hat die Stimmung ein so negatives Niveau erreicht und die Abflüsse aus den Aktien- und Anleihenmärkten sind so stark, dass die Aktienbewertungen wieder eine sehr interessante Ebene erreicht haben. Kurzfristig bietet China unserer Meinung nach gute Chancen. Mittel- und langfristig kommen aber zahlreiche weitere Faktoren ins Spiel: Dazu zählen natürlich die Demografie, aber auch die Verschuldung der Unternehmen, der Immobilienmarkt, die regulatorische Unsicherheit und die geopolitische Situation. Das belastet den Ausblick für die Wirtschaft, die Unternehmensgewinne und die Aktienmärkte deutlich. Wir sehen trotzdem langfristig einige selektiv gute Gelegenheiten, die man aber nur in einem sorgfältig abgesteckten Risikorahmen wahrnehmen sollte. 

Sind die Aussichten für US-Aktien besser?

Ashley: Wir sind mit Blick auf den US-Aktienmarkt derzeit neutral positioniert. Die Entwicklung des S&P 500 in diesem Jahr dominierten bekanntermaßen die sieben größten Tech-Werte. Das spiegelt sich auch in den Bewertungen wider. Der S&P 500 handelt bei einem durchschnittlichen Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 19. Wenn wir die größten sieben Werte abziehen, handelt der "S&P 493" nur noch bei einem KGV von 17, das ist schon deutlich günstiger. Wir halten aber auch die Bewertungen im Tech-Bereich angesichts der guten Aussichten für Halbleiter- und KI- und Technologie-Firmen für gerechtfertigt – das unterstreichen auch die bislang gelieferten Gewinne. Nur: Das kurzfristige Kurspotenzial scheint auf diesem Niveau begrenzt, insbesondere, wenn es doch zur milden Rezession kommt. Mit Blick auf die kommenden zwölf Monate sind wir insgesamt eher untergewichtet in US-Aktien. Zugleich bevorzugen wir in den USA Value-Aktien mit robusten Umsatz- und Gewinnzahlen. 

Wie schätzen Sie den Euroraum ein?

Ashley: Die Bewertungen sind hier günstiger als in den USA, auch wenn man die Sektorzusammensetzung um die großen US-Tech-Werte bereinigt. Die günstigeren Bewertungen haben aber ihren Preis: Sie reflektieren die schwierigen Makrobedingungen im Euroraum. Investoren erkaufen sich also die günstigeren Bewertungen mit einem schwächeren Wirtschaftswachstum. Wir sind unterm Strich in Europa ähnlich gewichtet wie in den USA. Unter den Industriestaaten ist Japan ganz klar unser Favorit, dort sind wir übergewichtet.

Vielen Dank für das Gespräch. (jh)


Im zweiten Teil des Interviews, den Sie in den kommenden Tagen auf FONDS professionell ONLINE lesen können, verrät James Ashley, was er von Schwellenländern hält, warum China ein Sonderfall ist und worauf es bei der Vermögensallokation jetzt ankommt.