Weltuntergangspropheten respektive Bären gehen von folgender Gedankenkette aus: Chinas Wirtschaft schwächt sich ab, deshalb braucht sie weniger Öl und andere Rohstoffe. Dadurch fallen die Rohstoffpreise, allen voran der Ölpreis, so drastisch wie zurzeit, was wiederum Unternehmen aus diesem Sektor in die Pleite treibt, die wiederum ihre kreditgebenden Banken mit in den Abgrund ziehen. Laut Daniel Zindstein, Leiter Portfoliomanagement des Vermögensverwalters Gecam, habe der niedrige Ölpreis jedoch auch sein Gutes, was derzeit vom Markt ausgeblendet oder zumindest unterschätzt werde.

Paradigmenwechsel
Zunächst einmal sei es laut Zindstein schon verblüffend, wie schnell sich ganz grundlegende Überzeugungen in der Welt wandeln. War noch vor zwei Jahren die Peak-Oil-Erwartung, also die Gewissheit, dass der Welt wohl bald das Öl ausgehe, vorherrschend, so ertrinkt die globale Wirtschaft aktuell geradezu in Öl. Die Rohstofflager sind randvoll, sodass schon Tankerkapazitäten zu "fahrenden Speichern" umgewidmet werden. Derweil stürzt der Ölpreis ins Bodenlose. Prognosen von 20, zehn und sogar Null US-Dollar pro Barrel machen die Runde. Die angeblich schwache Konjunktur und die neue Überzeugung, dass die Welt in Zukunft nicht mehr so viel Öl brauche, seien die Ursachen.

Aus Zindsteins Sicht sind solche Prognosen Ausdruck einer Übertreibung in der Endphase des sich dynamisierenden Abwärtstrends. Der Ölpreis rutschte in diesem noch jungen Jahr bereits knapp 28 Prozent ab, Rohstoffe im Allgemeinen um rund 13 Prozent.

Genau nachgerechnet
China ist noch immer der größte Rohstoff-Käufer der Welt. In Tonnen gerechnet sind die Rohstoffimporte bisher nicht zurückgegangen. Viele Betrachter machen den Fehler, Rohstoffhandelszahlen in US-Dollar zu messen, der vermeintlich besseren Vergleichbarkeit wegen. Steigt dieser jedoch im Vergleich zur heimischen Währung an, so steigt ebenfalls die Summe, die man für Importe aufwenden muss beziehungsweise fällt die Summe, die Exporteure dafür in der lokalen Währung bekommen. Genauso wirken die fallenden Rohstoffpreise unmittelbar.

Importiert zum Beispiel Deutschland rund 2,4 Millionen Barrel pro Tag, so entspricht dies bei einem Ölpreis von 100 Dollar einer Ölimportrechnung von 240 Millionen Dollar. Fällt nun der Barrel-Preis auf 30 Dollar, so geht die Ölimportrechnung auf 72 Millionen Dollar zurück. "Crash-Gurus würden jetzt die große Wirtschaftskrise in Deutschland ausrufen, da wir ja anscheinend viel weniger Öl brauchen", schreibt Zindstein. "Umgekehrt wird jedoch ein Schuh daraus: Die deutschen Unternehmen und Verbraucher sparen nun 168 Millionen Dollar pro Tag! Das ist ein echtes Konjunkturprogramm in Höhe von 61 Milliarden Dollar pro Jahr!"

Für China gelte laut Zindstein natürlich die gleiche Rechnung. Sie geht sogar noch besser auf, da der chinesische Yuan viel weniger heftig zum Dollar schwankt, ja bis vor kurzer Zeit sogar noch an diesen gekoppelt war. Aber kauft China in absoluten Maßeinheiten gerechnet nun weniger oder mehr Rohöl in der Welt? Im Gesamtjahr 2015 stiegen die Ölimporte um rund neun Prozent auf 6,7 Millionen Barrel pro Tag an. Im Dezember wurde sogar ein Rekordniveau von 7,8 Millionen Barrel erreicht. Das seit laut Zindstein "wahrlich kein Zeichen einer schwächelnden Konjunktur".
 
Mehr Service und Energieffizienz = weniger Verbrauch
Auch weltweit gehen die Ölverbrauchsraten nicht zurück, sie stagnieren höchstens. Gründe für ein Wirtschaftswachstum ohne stärkeren Ölverbrauch sind die stark auf Energieeffizienz ausgerichteten Volkswirtschaften des Westens. Um eine Einheit Wirtschaftswachstum zu erzielen, ist beispielsweise in Deutschland nur noch die Hälfte der Energiemenge notwendig, wie noch in den 80er Jahren.

Gleichzeitig wandeln sich die Volkswirtschaften weg von der energiefressenden Industrie und Produktionswirtschaft, hin zur Dienstleistungsindustrie. In den USA trägt der sogenannte tertiäre Sektor mittlerweile rund 80 Prozent zur Wertschöpfung bei. Aber auch in Deutschland und Japan machen Dienstleister zwei Drittel der Wirtschaft aus. Und sogar in China, dem Inbegriff von Schwerindustrie, Bauindustrie und verarbeitendem Gewerbe, tragen Dienstleistungen fast die Hälfte zum Bruttoinlandsprodukt bei. Es gäbe laut Zindstein also genügend Gründe, warum die Volkswirtschaften weniger Öl verbrauchen könnten, trotzdem steigen die Ölimporte: "Das ist kein Zeichen von Schwäche."

Die Spekulanten dieser Welt springen natürlich auf solch eindeutige und lange Trends auf und verstärken diese. Aktuell ist die Anzahl der Short-Spekulationen im Bereich Rohstoffe, Energie und Emerging Markets so hoch wie noch nie und mit ein Grund für die Beschleunigung der Abwärtsbewegung in den letzten Wochen.

Niedrige Rohstoffpreise sind gut
Dass Rohstoffproduzenten unter den schwachen Rohstoffpreisen leiden, stehe außer Frage. Doch die Profiteure überwiegen im Verhältnis von mindestens 3:1. Das bedeutet, es gibt viel mehr Länder, die Rohstoffe importieren als exportieren. Es gibt viel mehr Menschen auf der Welt, die Rohstoffe konsumieren als solche, die von der Förderung und dem Export derselben leben. Der Rückgang des Ölpreises von 100 auf 50 US-Dollar entlastet die Weltwirtschaft unterm Strich rechnerisch um rund 2,2 Prozent an Kosten. Das entspreche rund 1,6 Billionen US-Dollar pro Jahr.

Dieser Effekt wirkt natürlich weiter, wenn der Ölpreis bei 30 Dollar notiert, selbst wenn dann einige negative Effekte wie der Nachfragerückgang aus den Schwellenländern, Verkäufe von Aktien aus den Beständen der Ölförderländer, um Staatshaushalte auszugleichen, und Änhliches bremsend wirken. Der Effekt, dass jeder Verbraucher und jedes Unternehmen kräftig spart und dieses Geld, wenn auch zeitverzögert, für Konsum und Investitionen oder vielleicht auch für Aktienkäufe zur Verfügung steht, kann nicht negiert werden! Am Rande sei erwähnt: Besonders stark vom billigen Öl profitiert China, das so heftig unter internationalem Beschuss steht. (aa)