Marco Herrmann, Chief Investment Officer beim Münchner Vermögensverwalter Fiduka, sieht gute Gründe für die starke Performance an den Aktienmärkten. Die Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank (EZB) betrachtet der Markt seiner Meinung nach nur als kurzzeitige Belastung, die meisten Aktienmärkte hält Herrmann für günstig bewertet. Im Gespräch mit FONDS professionell ONLINE sagt er, welche Märkte er momentan favorisiert und worauf er bei der Aktienauswahl besonders achtet.

Herr Herrmann, seit Jahresanfang steigen die Aktienkurse und lassen sich nicht einmal von den angekündigten weiteren Zinserhöhungen der EZB einschüchtern. Was ist bloß mit den Aktienmärkten los?

Marco Herrmann: Vor Winterbeginn machten sich die Anleger zu Recht große Sorgen über die Sicherheit und die Kosten unserer Energieversorgung. Ein besonders kalter Winter hätte der europäischen Wirtschaft enorm geschadet, doch glücklicherweise ist dieses Szenario nicht eingetreten. Aus diesem Grund ist auch der Gaspreis ins Rutschen gekommen. Der maßgebliche Dutch TTF Natural Gas Futures notiert nur noch bei rund 50 Euro, während er im Sommer in der Spitze bei 300 Euro handelte. In der Summe heißt das weniger Konjunkturrisiko bei gleichzeitig weniger Kostendruck, was zu einer deutlichen Stimmungsverbesserung an den Aktienmärkten geführt hat. Das Worst-Case-Szenario ist vom Tisch. Zudem gibt es nach Aufgabe der Null-Covid-Politik neue Fantasie bezüglich China als Motor für die Weltwirtschaft. Die in Aussicht gestellten höheren Leitzinsen betrachtet der Kapitalmarkt nur als vorübergehendes Phänomen, was sich an der ungewöhnlich stark inversen Zinskurve ablesen lässt.

Trotzdem sinken die Gewinnerwartungen der Unternehmen…

Herrmann: Tatsächlich fallen die Firmenbilanzen zum Jahresende insgesamt solide und etwas besser als erwartet aus. Aber die Ausblicke der Unternehmen für das laufende Geschäftsjahr sind angesichts der konjunkturellen Schwachpunkte sehr vorsichtig und liegen unter den Erwartungen. Viele Konzerne haben mit Kostensteigerungen in der Material- und Vorproduktbeschaffung und höheren Lohnabschlüssen zu kämpfen. Dazu kommen in einigen Branchen immer noch Lieferkettenstörungen. Die hohen Ertragsmargen sind nicht zu halten.

Sind Aktien vor dem Hintergrund zu hoch bewertet?

Herrmann: Mit der starken Rally der Aktienkurse seit Ende September haben sich die Aktienbewertungen wieder spürbar erhöht. So stieg das Kurs-Gewinn-Verhältnis des deutschen Dax-Index gemessen an den Gewinnprognosen für 2023 von knapp über zehn auf aktuell 12,3. Verglichen mit dem historischen Durchschnitt von 14 sind deutsche Aktien nicht wirklich überteuert. Dasselbe gilt für Europa und Japan. Die einzige Ausnahme stellt der US-Markt dar: Hier wird der S&P-500-Index derzeit mit dem 18,5-fachen Gewinn bewertet. Kurzlaufende US-Staatsanleihen mit Renditen von über 4,5 Prozent sind da eine ernsthafte Konkurrenz. 

Ukraine-Krieg, China-Spannungen, Zinsen, Energiepreise, Inflation – sieht der Kapitalmarkt die Lage zu positiv oder verhalten sich Anleger rational, die jetzt in Aktien anlegen?

Herrmann: Unserer Meinung nach sind die Aktienbörsen etwas zu weit vorgeprescht und preisen ein optimistisches Goldilocks-Szenario ein. Eine Verschnaufpause tut jetzt dringend Not, in der sich die Aktienmärkte an längerfristig höhere Zinsen anpassen können.

Worauf legen Sie aktuell den Fokus in der Kapitalanlage: Chance oder Sicherheit?

Herrmann: Beides! Wer nur auf Sicherheit setzt, kann langfristig keine akzeptable Performance erzielen. Allerdings sollte man die Risiken, die man eingeht, gut kennen und stets im Auge behalten. 

Welche Risiken gehen Sie momentan ein und in welchen Segmenten fühlen Sie sich am wohlsten? 

Herrmann: Nach der von uns erwarteten Konsolidierungsphase sehen wir weiteres Aufwärtspotential bei europäischen Aktien. Zurzeit setzen wir noch überwiegend auf defensive, eher konjunkturunabhängige Unternehmen. Diese finden wir primär in den Branchen Gesundheit und Nahrungsmittel. Aussichtsreich sind aber auch wachstumsstarke Aktien. Der Luxusgütersektor liefert hier einige Beispiele. Zudem finden wir die Themen Automation & Robotics und Cyber Security attraktiv.

Worauf achten Sie besonders bei der Titelauswahl?

Herrmann: In Zeiten hoher Inflation müssen die Unternehmen eine hohe Preisüberwälzungsmacht besitzen, sonst erodieren die Gewinnmargen in kürzester Zeit. Besonders gefährdet sind personalintensive Branchen. Ebenso spielen auch Refinanzierungsrisiken eine wichtige Rolle bei der Aktienauswahl. Eine solide Bilanz und bester Zugang zum Kapitalmarkt sind essenziell. Wir mögen vor allem Unternehmen, die mit führenden Produkten in wachsenden Märkten tätig sind. Uns sind aber drei bis fünf Prozent Wachstum lieber als 30 Prozent, weil dann meist die Bewertung immer noch überzogen ist.

Welche Komponenten gehören außer Aktien in ein vermögensverwaltendes Depot? 

Herrmann: Anleihen bieten seit vielen Jahren erstmals wieder ein interessantes Zinsniveau. Wir bevorzugen kurzlaufende Anleihen, die ein gutes Chance-Risiko-Verhältnis besitzen. Mit sicheren ein- bis zweijährigen Bundesanleihen lassen sich beispielsweise fast drei Prozent Rendite einfahren. Gold bleibt aufgrund seiner unkorrelierten Eigenschaft eine sinnvolle Depotbeimischung. 

Wo könnte der Dax zum Jahresende stehen?

Herrmann: Wir haben bereits Anfang Dezember 2022 für den Dax eine Prognose von 16.000 Punkten bis Ende 2023 abgegeben. Daran halten wir weiterhin fest. 

Vielen Dank für das Gespräch. (jh)