Wirtschaftsexperten raten der EU, ihre harte Linie gegenüber Großbritannien bei den Brexit-Verhandlungen zu überdenken: "Ein No-Deal-Brexit hätte auch für die EU spürbar negative Folgen", sagt Axel D. Angermann, Chef-Volkswirt bei der Investment-Research-Gruppe Feri. Angermann stellt auf die große wirtschaftliche Bedeutung Großbritanniens vor allem für die deutsche Wirtschaft ab: Mit einem Anteil von 6,6 Prozent der Gesamtexporte sei Großbritannien für Deutschland der fünftwichtigste Handelspartner, nur knapp hinter China und noch vor Italien und Spanien. Knapp 30 Prozent der Direktinvestitionen in der EU wurden Angermann zufolge bislang in Großbritannien getätigt: "Der Anteil ist damit doppelt so hoch, wie es der Wirtschaftsleistung gemessen am BIP entspräche", so der Volkswirt.

Die Zahlen zeigen: Sollte Großbritannien ohne vertragliche Regelung der künftigen Beziehungen aus der EU austreten, hätten beide Seiten viel zu verlieren. "Die Folgen wären für Großbritannien zwar weitaus gravierender, aber auch die übrigen EU-Länder und insbesondere Deutschland müssten mit massiven Störungen im Außenhandel, erheblichen Absatzeinbußen und demzufolge mit spürbaren Auswirkungen auf die wirtschaftliche Dynamik rechnen", sagt Angermann.

Derzeitige Verhandlungslinie der EU befremdlich
Die derzeitige Verhandlungslinie der EU, wie sie sich auf dem jüngsten Treffen der Staats- und Regierungschefs in Salzburg zeigte, ignoriere diese Tatsache und mute deshalb befremdlich an: "Es mag menschlich verständlich sein, die Briten für die Folgen ihres Brexit-Votums allein verantwortlich zu machen", sagt Angermann. "Ein professioneller Umgang mit dem demokratischen Votum einer knappen Mehrheit der Briten, der nüchtern auch die eigenen Interessen in den Blick nimmt, ist es nicht." Die EU und allen voran Deutschland seien selbst Beteiligte und wären selbst auch Verlierer eines "No-Deal-Brexit".  

Der Volkswirt plädiert deshalb dafür, Theresa May und ihren Ideen für einen geregelten Brexit eine Chance zu geben, auch wenn die EU sich nicht auf alle beim Treffen in Salzburg gemachten Vorschläge einlassen müsse: May habe mit ihren Vorschlägen einen innenpolitischen Befreiungsschlag gewagt, nun solle man sie nicht einfach abblitzen lassen: "Ein möglicher Sturz Theresa Mays und die Übernahme der Amtsgeschäfte etwa durch Boris Johnson würde die Lage insgesamt nicht einfacher und das Scheitern der Verhandlungen wahrscheinlicher machen." (fp)