Eine Inflationsrate von unter, aber nahe zwei Prozent – so lautet das mittelfristige Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB). Nun rückt dieses Ziel in immer greifbarere Nähe. Auf der turnusmäßigen Sitzung am Donnerstag verkündete EZB-Chefin Christine Lagarde, die Notenbank erwarte in diesem Jahr 1,9 Prozent Inflation, berichtet die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ). Noch im März hatten die Volkswirte der EZB eine Teuerung von 1,5 Prozent für das laufende Jahr vorhergesagt. Die deutlich nach oben korrigierten Erwartungen ändern vorerst jedoch nichts an der ultralockeren Geldpolitik der EZB. Lagarde sagte, dass die Anleihekäufe auch im dritten Quartal signifikant höher ausfallen sollen. "Wir glauben, dass eine ruhige Hand die richtige Entscheidung ist", zitiert die Tageszeitung die EZB-Präsidentin. 

In einzelnen Ländern, so auch in Deutschland, könnte die Inflation allerdings deutlich höher ausfallen. Ökonomen rechnen in Deutschland für einzelne Monate mit einer Teuerungsrate von mehr als vier, teilweise sogar mit fünf Prozent, berichtet die FAZ. Auch mit Blick auf das kommende Jahr korrigierte die EZB ihre Inflationsprognose nach oben. Im Jahr 2022 erwartet sie nun 1,5 statt 1,2 Prozent Inflation im Euroraum. Gleichzeitig betonte Lagarde den vorübergehenden Charakter der höheren Inflationsraten. Entscheidend für die weitere Entwicklung der Teuerung seien die Preise der Dienstleistungen. Diese hingen stark an Löhnen, bei denen derzeit noch kein starker Anstieg zu erkennen sei. 

Inflationsanstieg in den USA
In den USA zeichnen sich derweil ebenfalls deutliche Signale für eine steigende Inflation ab. Die Vereinigten Staaten vermeldeten einen Anstieg der Teuerungsrate im Mai auf fünf Prozent. Lagarde lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Sie sagte, die EZB würde die höhere Inflation in den USA aufmerksam verfolgen. Allerdings stünden die Vereinigten Staaten an einer ganz anderen Stelle im Wirtschaftszyklus, die Situation sei mit der Eurozone nicht vergleichbar. Eine Diskussion über das Tempo der Anleihekäufe vermied Lagarde. Diese komme zu früh und sei voreilig. 

Ulrike Kastens, Volkswirtin Europa bei der Fondsgesellschaft DWS, rechnet ab diesem Herbst mit einem langsamen Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik seitens der EZB. Dieser werde ihrer Meinung nach mit einer etwas gedrosselten Geschwindigkeit Anleihekäufe im Rahmen des Pandemic Emergency Purchase Programm (PEPP) beginnen. "Wir halten daran fest, dass der Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik vorsichtig ausfallen wird", sagt Kastens. "Doch sollte jedem klar sein, dass 2022 mit deutlich weniger Unterstützung von Seiten der EZB zu rechnen ist."

Reduktion im Sommer möglich
Auch Jörg Angelé, leitender Ökonom beim Vermögensverwalter Bantleon, geht davon aus, dass die Notenbank ihre Anleihekäufe ab Herbst reduzieren und das PEPP nicht über den März 2022 hinaus verlängern wird. Eine erste Reduktion der Käufe im Sommer schließt er ebenfalls nicht aus. "Eine Reduktion der Käufe im Sommer auf beispielsweise 17 Milliarden Euro pro Woche, die schon aus saisonalen Gründen wahrscheinlich ist, wäre immer noch gleichbedeutend mit einem deutlich höheren Kaufvolumen als zu Beginn des Jahres", sagt Angelé. Er und sein Team halten es daher für fraglich, ob die EZB den aktuellen Rahmen bei den PEPP-Käufen am Ende ausschöpft. (fp)