Die Spekulationen über eine mögliche Zinswende haben ein Ende: Bis mindestens Mitte 2020 werden die Zinsen nicht steigen. Das verkündete die Europäische Zentralbank (EZB) auf ihrer Ratssitzung in Litauens Hauptstadt Vilnius am Donnerstag (6. Juni). Zuvor war gängige Mehrheitsmeinung, dass die Leitzinsen nur noch bis Ende dieses Jahres auf dem aktuell niedrigen Niveau blieben, wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) berichtet. Der Leitzins der EZB liegt seit Jahren bei null Prozent, der Einlagenzinssatz bei minus 0,4 Prozent. 

Der Grund für die Entscheidung der EZB seien vor allem düstere Wirtschaftsaussichten aufgrund von geopolitischen Spannungen und Handelskonflikten, erklärte EZB-Präsident Mario Draghi laut FAZ. Er selbst wird zum Zeitpunkt der möglichen Zinswende nicht mehr im Amt sein – sein Anstellungsvertrag endet vertragsgemäß im Oktober. An der ultralockeren Geldpolitik wird auch sein Nachfolger wohl so schnell nichts ändern: "Wir sind weit entfernt von einer Normalisierung, weil die Welt und die Herausforderungen weit entfernt sind vom Normalen", sagte Draghi.

Deshalb sei die EZB bereit, alle Instrumente einzusetzen, die im Risikofall nötig wären. Mehrere Zeichen hatten dafür gesprochen, dass die Geldpolitik der EZB weiter locker bleibt: So hatte sich die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) offen gegenüber einer weiteren Zinssenkung gezeigt. Auch die Inflationsrate in Europa kommt nicht wie beabsichtigt in die Gänge. Für Experten aus der Finanzwelt kommt die Entscheidung der EZB deshalb nicht besonders überraschend. 

Experten sehen EZB-Kurs unterschiedlich
Besonders die Entwicklung der Bundesanleihe war für Wolfgang Bauer, Fondsmanager im Anleiheteam bei M&G Investments, ein Indiz für die hinausgeschobene Zinswende: "Der Kollaps der Rendite auf deutsche Staatsanleihen in den vergangenen Wochen signalisierte ja, dass sich die Märkte nicht um mögliche Zinserhöhungen sorgen, sondern ganz im Gegenteil eine weitere Zinssenkung als wahrscheinlicher erachten."  Draghi habe die sprichwörtliche große Bazooka im Depot belassen und sich statt ihrer auf ein kleineres Kaliber beschränkt.

Für Johannes Müller, Head Macro-Research DWS, ist die wichtigste Botschaft Mario Draghis, dass die EZB mit allen möglichen Instrumenten bereitstehen würde, wenn sich die Rahmenbedingungen verschlechtern sollten. "Von Normalisierung bleibt die EZB also weit entfernt", stimmt Müller dem EZB-Präsidenten zu. 

Die künftige Konjunkturentwicklung sehen einige Experten allerdings optimistisch. "Nach unserer Einschätzung bleibt die Messlatte für eine mögliche Wiederaufnahme der Anlagenkäufe hoch, da sich die wirtschaftlichen Aussichten nicht dramatisch verschlechtern werden", sagt Jürgen Odenius von PGIM Fixed Income. Und auch Bantleon-Chefökonom Daniel Hartmann geht von einer konjunkturellen Aufhellung noch in diesem Jahr aus. Er ist der Ansicht, dass die EZB "bald wieder auf den Kurs der geldpolitischen Normalisierung zurückkehren" wird. Weitere Zinssenkungen erwartet er nicht. (fp)