Der deutsche Ökonom Daniel Gros ist Direktor des Centre for European Policy Studies (CEPS), einer europäischen Denkfabrik mit Sitz in Brüssel. Zudem war er für den Internationalen Währungsfonds (IWF) tätig und arbeitete als wirtschaftlicher Berater für die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und die französische Regierung. Lesen Sie im Anschluss seinen Original-Kommentar. (mb)


Die Notenbanken haben ein Problem: Das Wachstum in den meisten Teilen der Welt beschleunigt sich, aber die Inflation bleibt niedrig. Für die meisten Leute ist Wachstum ohne Inflation natürlich die ideale Kombination. Aber die Notenbanken haben als Ziel vorgegeben, eine Inflationsrate von "unter, aber in der Nähe von zwei Prozent" zu erreichen, wie es die Europäische Zentralbank formuliert. Und zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist schwer erkennbar, wie sich das umsetzen lässt.

Die Notenbanken haben nie vorgegeben, die Inflation direkt steuern zu können. Doch sie dachten, dass sie, indem sie im Gefolge der globalen Finanzkrise von 2008 ultraniedrige Zinssätze festlegten und großzügige Liquiditätsbedingungen schufen, Investitionen und Konsum ankurbeln könnten. Im Jahr 2009, als die Finanzmärkte in Turbulenzen steckten und sich die Wirtschaft im freien Fall befand, ging die US Federal Reserve noch einen Schritt weiter und leitete einen umfangreichen Ankauf von Vermögenswerten ein, die sogenannte quantitative Lockerung. Die EZB folgte in den Jahren 2014 bis 2015 ihrem Beispiel, als eine Deflation die Eurozone zu bedrohen schien (was sich im Nachhinein als falsch erwies).

Der Mechanismus scheint nicht mehr zu funktionieren
Die Maßnahmen der Fed trugen mit Sicherheit zur Stabilisierung der Finanzmärkte bei. Die EZB behauptet ebenfalls, dass ihre Anleihekäufe nach bereits erfolgter Finanzmarktnormalisierung Wirtschaftswachstum auslösten und die Beschäftigung ankurbelten. Doch weiter gingen die Auswirkungen nicht.

Der anziehende Arbeitsmarkt hätte zu höheren Löhnen führen sollen, die sich letztlich in höheren Preisen hätten niederschlagen müssen. Aber dieser Mechanismus, die sogenannte Phillips-Kurve, scheint nicht mehr zu funktionieren. Sowohl in den USA als auch in Japan steigen die Löhne trotz niedriger Arbeitslosigkeit nicht, zumindest nicht mit dem Tempo, das aufgrund historischer Erfahrungen zu erwarten wäre. Und wo es beispielsweise in den USA doch Lohnerhöhungen gibt, haben diese nicht die Auswirkungen auf die Preise, die man eigentlich erwarten sollte.

Die Gründe hierfür sind unklar. Im vergangenen Jahr konnte man den niedrigen Ölpreisen die Schuld geben, doch selbst als sich die Ölpreise etwas erholten, blieb die Inflation niedrig. Ein weiterer, eher struktureller Grund ist, dass die Preise der Waren, die einen großen Teil des Verbraucherpreisindex ausmachen, im Laufe der Zeit tendenziell fallen, weil diese Güter zunehmend in Niedriglohnländern gefertigt werden können, insbesondere in Asien. Darüber hinaus stehen die Preise der Einzelhändler aufgrund der Konkurrenz durch die Online-Shops unter Druck.

Die Fed kann zumindest einen halben Sieg beanspruchen
Dieses Problem der "fehlenden Inflation" ist besonders in der Eurozone und Japan akut. Weil die Bank von Japan und die EZB als einziges Erfolgskriterium das Erreichen ihres Inflationsziels festgelegt haben, stecken sie nun in der Bredouille. Insbesondere die EZB hat kaum eine andere Wahl, als ihre Politik des lockeren Geldes einschließlich der quantitativen Lockerung fortzusetzen, bis sie einen nachhaltigeren Anstieg der Inflation erkennt.

Für die Fed ist das Problem weniger ernst. Die USA erleben derzeit eine geringfügig höhere Inflation als die Eurozone und Japan, und die Fed hat ein doppeltes Mandat: nicht bloß Preisstabilität, sondern auch Vollbeschäftigung. Nachdem sie Letztere erreicht hat, kann sie zumindest einen halben Sieg beanspruchen und allmählich beginnen, die Zinssätze anzuheben.

Doch es gibt noch einen weiteren Grund, warum die fehlende Inflation für die Eurozone ein größeres Problem darstellt. Während der Spekulationsblase im Vorfeld der Krise von 2007 stiegen die Preise und Löhne in den Peripherieländern der Eurozone im Vergleich zu Deutschland, das unter hoher Arbeitslosigkeit und stagnierenden Löhnen litt, steil an. Im Laufe der Zeit verloren diese Länder ihre Konkurrenzfähigkeit. Als die Kapitalzuflüsse plötzlich aufhörten, konnten sie das nicht bewältigen und mussten ihre Exporte steigern.

Eine Strategie für verzweifelte Zeiten
Jetzt herrscht in Deutschland praktisch Vollbeschäftigung, aber die Löhne steigen um nicht mehr als zwei Prozent – deutlich weniger als jene fünf Prozent, die vorherrschten, als Deutschland zuletzt vor fast 30 Jahren eine derart niedrige Arbeitslosigkeit (unter vier Prozent) hatte. Der hieraus herrührende Mangel an Inflation trägt nicht nur zu Deutschlands sehr hohem Leistungsbilanzüberschuss bei; er erschwert es den Peripherieländern zugleich, ihre Wettbewerbsposition gegenüber Deutschland zu verbessern.

Die EZB muss ihre Geldpolitik auf der Grundlage des Eurozonen-Durchschnitts festlegen. Doch es wäre ihr eindeutig lieber, wenn die Ungleichgewichte bei der Wettbewerbsfähigkeit, die während der Boomjahre auftraten, schneller korrigiert würden, und auch die meisten politischen Entscheidungsträger würden eine gewisse Neuausrichtung begrüßen.

Doch die wahre Frage ist nicht, ob eine Inflation, die näher an zwei Prozent liegt, wünschenswert wäre. Die quantitative Lockerung ist eine Strategie für verzweifelte Zeiten. Das heutige wirtschaftliche Umfeld ist ein komplett anderes als noch vor ein paar Jahren: Die Finanzmärkte entwickeln sich lebhaft, die Finanzbedingungen sind extrem günstig, die Wirtschaft wächst zufriedenstellend und es gibt keine Anzeichen einer Deflation.

Eine auf ein Gewitter ausgelegte Politik – obwohl die Sonne scheint
In einer aktuellen Rede hat EZB-Präsident Mario Draghi angemerkt, dass sich langsam eine reflationäre Dynamik verfestige. Die Märkte nahmen ihn beim Wort und handelten den Euro umgehend höher, weil die Anleger zu dem Schluss kamen, dass Negativzinsen und Ankäufe von Vermögenswerten unter diesen Umständen nicht länger gerechtfertigt seien. Doch die EZB hat diese Interpretation rasch bestritten.

Dies war ein Fehler. Es ergibt keinen Sinn, eine auf ein Gewitter ausgelegte Politik weiterzuverfolgen, wenn wieder die Sonne scheint. Die EZB muss ihren Kurs nicht völlig umkehren, aber sie könnte ihren Sieg im Kampf gegen die Deflation erklären und den Ausstieg aus ihrer Notfallpolitik einleiten.

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