Draghi in der Defensive: Wie Experten die EZB-Sitzung bewerten
EZB-Präsident Mario Draghi scheint es niemandem recht machen zu können. Zwar springt das Wirtschaftswachstum in Europa allmählich an, nicht aber die Inflation. Dass Draghi den Leitzins auf Nullniveau belässt, stößt bei Beobachtern zwar auf Verständnis – sorgt aber bei einigen auch für Ungeduld.
Die Worte, die Währungshüter rund um den Globus zur Beschreibung des wirtschaftlichen Ausblicks wählen, sind allgemein wohlüberlegt. Mario Draghi und einige seiner Ratskollegen hatten im Vorfeld des heutigen EZB-Treffens in Tallinn versucht, Erwartungen an große Signale einzudämmen. Sie argumentierten, dass es keine Gründe für Eile bei einem Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik gebe.
So ist es auch gekommen. Ein Abschmelzen der billionenschweren Anleihenkäufe ist für die EZB laut Draghi derzeit kein Thema. "Das wurde nicht besprochen", sagte der oberste Währungshüter Europas am Donnerstag gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Eine Normalisierung der Geldpolitik sei nicht erörtert worden.
Wie namhafte Anlagestrategen, Fondslenker und Ökonomen bei Banken, Versicherern und Asset Managern den EZB-Entscheid bewerten, zeigt unsere Fotogalerie oben.
Die Europäische Zentralbank (EZB) und die nationalen Notenbanken erwerben seit März 2015 Staatsanleihen und andere Wertpapiere und wollen so Banken zur stärkeren Kreditvergabe an Privatleute und Unternehmen motivieren, was der Konjunktur zugutekommen und die Inflation antreiben soll. Positiv zu berücksichtigen ist, dass sich das Wachstum besser als erwartet entwickelt hat. Im Mai hatten das verarbeitende Gewerbe und die Dienstleistungen in der Eurozone so stark zugelegt wie seit sechs Jahren nicht mehr – angetrieben von den beiden größten Volkswirtschaften Deutschland und Frankreich.
Mysterium und Martyrium zugleich: Die Teuerungsrate
Das größte Rätsel für die EZB bleibt die flaue Inflation. Zwar hatte Bundesbankpräsident Jens Weidmann vergangene Woche geäußert, dass es angesichts der stärkeren wirtschaftlichen Erholung zunehmend wahrscheinlich sei, dass der Anstieg der Inflation, der seit August 2016 zu beobachten ist, nicht nur ein Strohfeuer ist. Doch Vorsicht ist wohl geboten.
So sieht es auch Draghi selbst: Der allgemeine Kostendruck, insbesondere durch die Lohnentwicklung, sei immer noch unzureichend, um die Inflation wieder in der Nähe des Zielwerts von knapp zwei Prozent auf Dauer zu verankern. (kb/ps)
Kommentare
EZB
AntwortenEs geht um Staatsfinanzierung, die mit Wortgeklingel über Deflation oder Inflation einfach vernebelt wird. Der Sparer, primär der deutsche Sparer mit seiner bemerkenswerten Fixiertheit auf Versicherungen, Sparkonten und Anleihen, zahlt die Zeche für die Schuldnerländer. Die Experten mögen mal die Auswirkungen einer Zinserhöhung auf den italienischen Staatshaushalt ausrechnen, und auf den belgischen Staatshaushalt... Andererseits hat sich die Welt mit Blick auf Japan an Staatsfinanzierungen durch die Notenpresse gewöhnt. Unsere Politiker finden eine Vergemeinschaftung von Schulden wahrscheinlich akzeptabel, wenn man nur so die Kunstwährung "Euro" retten kann. Das will der Wähler aber verständlicherweise nicht hören, und deshalb wird das Verschleiern der Fakten durch die EZB gutgeheißen. Will die Kanzlerin wirklich den Euro retten, dann muss Deutschland austreten: Für Deutschland ist der Euro viel zu schwach, für viele anderen Länder (incl Frankreich) viel zu stark. Das würde auch innenpolitisch der impliziten Umverteilung von unten nach oben endlich einen Riegel vorschieben.
urenner@zsh.de am 09.06.17 um 16:44