Für den Verwaltungsratsvorsitzenden der Société Générale, Lorenzo Bini Smaghi, hat Bundesfinanzminister Christian Lindner in der vergangenen Woche eine Grenze überschritten, als er scheinbar die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank infrage stellte. "Ich finde das ziemlich schockierend", sagte der Italiener, ein ehemaliges Mitglied des EZB-Direktoriums, in einem Interview mit dem Finanznachrichtendienst "Bloomberg". "Der Vertrag besagt, dass Politiker versuchen sollten, Druck auf die EZB zu vermeiden."

Lindner hatte bei einer Veranstaltung des Ifo-Instituts gesagt, dass er ein mögliches Eingreifen der EZB rechtlich prüfen lassen würde, sollte der Ausgang der französischen Parlamentswahlen einen massiven Ausverkauf von Staatsanleihen des Landes auslösen. Die überraschende Entscheidung von Präsident Emmanuel Macron vom 9. Juni, die Wahl auszurufen, hat die Anleiheinvestoren verunsichert, die in Anlehnung an die Eurokrise vor mehr als zehn Jahren einen höheren Renditeaufschlag gegenüber Bundesanleihen forderten.

"Ich wünsche mir das nicht auch noch"
"Die EZB hat ihre eigenen Instrumente", sagte Bini Smaghi. "Natürlich gibt es Bedingungen für diese Instrumente." Die EZB schuf das Transmissionsschutz-Instrument im Jahr 2022 — kurz bevor sie begann, die Zinsen zu erhöhen, da sie befürchtete, dass eine Straffung der Geldpolitik zu Marktturbulenzen führen würde. Ähnlich wie bei den auf dem Höhepunkt der Staatsschuldenkrise angekündigten Anleihekäufen hielten sich die Währungshüter bei der Ausgestaltung des Programms bedeckt, um rechtliche Probleme von vornherein zu vermeiden.

Lindner hatte gesagt, dass "eine starke Intervention der EZB einige ökonomische und verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen würde". Dann müsste er prüfen lassen, "ob das alles noch mit dem Vertragsrecht übereinstimmt – deswegen wünsche ich mir das nicht auch noch". Und er ergänzte: "Hoffen wir bitte alle darauf, dass die EZB nicht bemüht werden muss."

"Denken Sie an Ihre eigenen Probleme"
Bini Smaghi fügte hinzu, dass frühere Klagen gegen die EZB-Politik vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert seien und dass Deutschland mehrere dringende Probleme zu bewältigen habe. "Wenn ich dem deutschen Finanzminister einen Rat geben kann, dann denken Sie an Ihre eigenen Probleme. Ich denke, Sie haben in Deutschland genug davon", sagte er.

Bini Smaghi schied zum Jahresende 2011 aus dem EZB-Direktorium aus. Im Oktober des Jahres hatte er der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zufolge ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, ob es möglich sei, die Gold- und Währungsreserven der Euro-Mitgliedsstaaten zu "poolen", was die Goldreserven der Bundesbank betroffen hätte. Im September des Jahres hatte Chefvolkswirt Jürgen Stark angekündigt, die Zentralbank aus "persönlichen Gründen" zu verlassen. Berichten zufolge trat er aus Protest gegen die Aufkaufprogramme der EZB zurück. (Bloomberg/ert)