Am Rentenmarkt hat sich eine Anomalie breit gemacht: die inverse Zinskurve. Dabei sind die Renditen für Anleihen mit langer Laufzeit niedriger als für Kurzläufer. Bei lediglich 13 von 35 Industrie- und Schwellenländern besteht noch die normale Konstellation, bei der die langfristigen Zinsen höher liegen als die kurzfristigen. Dies zeigt eine Untersuchung des Kapitalmarktanalysten Sebastian Dörr vom Multi-Family-Office HQ Trust aus Bad Homburg.

Dörr untersuchte die Renditeabstände zwischen Staatsbonds mit einer Laufzeit von einem und zehn Jahren mit Stand von Mitte September. "Der Großteil der Länder weist aktuell eine inverse Zinsstrukturkurve auf", berichtet der Analyst. "Dazu zählen Deutschland, die USA und Neuseeland, aber auch Taiwan und Hongkong." Spitzenreiter ist Russland mit einer Differenz von minus 2,53 Prozentpunkten zwischen kurz- und langlaufenden Anleihen. Darauf folgen Mexiko mit minus 1,8 und Kanada mit minus 1,5 Prozentpunkten.

Enorme Abstände
Bei US-Treasuries, dem weltweiten Referenzmarkt für Staatsanleihen, sind bei zehnjährigen Papieren die Renditen um 1,16 Prozentpunkte niedriger als bei einjährigen. Am anderen Ende des Spektrums steht Südafrika: Hier sind die Langläufer-Renditen 1,6 Prozentpunkte höher als die der Kurzläufer. Auch Polen und Japan rangieren im normalen Bereich mit Renditeabständen von 0,84 und 0,78 Prozentpunkten.

Doch selbst innerhalb des Euroraums weisen die nationalen Bondmärkte erhebliche Abweichungen zueinander auf. "Trotz einer einheitlichen Zentralbank, der EZB, sind die Unterschiede zwischen den Ländern innerhalb der Eurozone beachtlich", sagt HQ-Trust-Experte Dörr. In den Niederlanden oder Deutschland bringen die Kurzläufer rund einen Prozentpunkt mehr Rendite. In Österreich liegt die Differenz bei minus 0,42 Prozentpunkten. Dagegen notierten in Italien die Langläufer rund 0,5 Prozentpunkte über den einjährigen Anleihen.

Vorbote einer Rezession
"Die Gründe hierfür liegen insbesondere in der höheren Verschuldung sowie einer weniger stabilen Haushaltssituation Italiens", erläutert der Analyst. "Die höhere Rendite ist daher angesichts der Unsicherheit als eine Art 'Risikozuschlag' anzusehen." Auch in Griechenland sind die zehnjährigen Renditen um 0,65 Prozentpunkte höher als die für einjährige Anleihen. Bei spanischen Staatsbonds liegt das Zinsniveau zwischen den beiden Fälligkeitszeiträumen praktisch gleichauf.

Eine inverse Zinskurve galt bislang als Vorbote einer Rezession. "Wenn Investoren erwarten, dass die Wirtschaft in der Zukunft schlechter performt als in der Gegenwart, suchen sie verstärkt nach langfristigen Anleihen, was die zehnjährigen Zinsen senkt", erläutert Dörr. Das muss jedoch nicht immer der Fall sein. "Grundsätzlich können sich niedrigere Zinsen am langen Ende am Kapitalmarkt entwickeln, wenn in der Zukunft mit sinkenden Zinssätzen gerechnet wird", führt der Analyst aus.

Ende in Sicht
Die derzeitige Anomalie am Anleihenmarkt führt der Kapitalmarktexperte auf einen bestimmten Umstand zurück. "Die umfangreichen Zinsanstiege der vergangenen Monate wurden angesichts außerordentlich hoher Inflationsraten beschlossen", erklärt Dörr. "Zukünftige Zinssenkungen wurden bereits kommuniziert, wobei der genaue Zeitpunkt noch unbekannt ist. Folglich ist die aktuelle Invertierung der Zinsstrukturkurve nicht unbedingt eine Überraschung." (ert)