Im vergangenen zins- und wachstumsschwachen Jahrzehnt haben Investoren auf der Suche nach Rendite zügellos teure Growth-Aktien gekauft. Seit Beginn 2022 ist Schluss damit. Typische Wachstumsaktien, insbesondere solche aus dem IT-Sektor, wie Meta (Facebook), SAP oder Amazon, wurden an der Börse abgestraft. Value-Aktien, also Substanztitel, deren Börsenpreis unterhalb des fundamentalen Werts liegt, haben seit Jahresanfang die Oberhand. Ein wesentlicher Faktor dafür sind die Zinssteigerungen der Notenbanken. Diese implizieren unter anderem ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum. Schlecht für teure Growth-Titel, die oft schon hohe Gewinnsteigerungen eingepreist haben. Aus dieser Situation entstehen momentan den Value-Anlegern historisch ungewöhnliche Vorteile, wie Andreas Wosol, Head of Value von Amundi, erklärt.

Herr Wosol, Sie sind bei Amundi für den großen European-Equity-Value-Fonds verantwortlich. In den vergangenen Jahren war oft die Rede vom Comeback des europäischen Aktienmarktes. Wie sieht es nun aus? Value ist ja zumindest heuer schon stark zurückgekommen.

Andreas Wosol: Es gibt momentan wirklich einige positive Argumente: Europa ist mehr Value, Amerika mehr Growth. Hinter uns liegt gerade eine über zehnjährige Periode an fallenden Zinsen und unterdurchschnittlichem Wirtschaftswachstum. Das war die Konsequenz der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. In dieser Phase haben Investoren Wachstumssegmente bevorzugt. Deshalb hat der amerikanische Aktienmarkt, wo Growth einen viel höheren Anteil hat, so viel besser performt als der europäische. Jetzt ist aber der Paradigmenwechsel da. Die Notenbanken erhöhen die Zinsen, um auf die Inflation zu reagieren. Value schneidet seit Jahresbeginn 2022 besser ab als Growth. 

Wie sehr ist der Krieg in der Ukraine ein Problem für den europäischen Aktienmarkt?

Wosol: Klar, Europa hat die geografische Nähe zur Ukraine. Was die Zinssensitivität betrifft, ist aber Europa momentan bevorzugter. Auch die Inflationsdynamik ist bei uns noch weniger stark, etwa bei den Löhnen. Wenn die Zinsen weiter steigen, sind wahrscheinlich die europäischen Aktien etwas besser geschützt als die amerikanischen. Europa war immer niedriger bewertet als Amerika. Aber das war niemals ein Bewertungsproblem, sondern entstand wirklich daraus, dass es geringes Wirtschaftswachstum und kaum Zinsen gab. Da haben viele auf die amerikanischen Aktien mit ihrem hohen Growth-Anteil gesetzt.

Die USA haben die besseren Growth-Titel. Heißt das umgekehrt, dass Europa die besseren Value-Titel hat?

Wosol: Das ist eine sehr interessante Frage. Europa hat klarerweise mehr Value-Anteil allein aufgrund der Marktstruktur. In den europäischen Indizes nehmen teils Banken ein sehr hohes Gewicht ein; auch Konsum- und Industrieaktien sind wichtig. Da hat man also viele zyklische Unternehmen, die für Value-Investoren wichtig sind, weil man Unterbewertungen ausnutzen kann. Aber, und das ist jetzt interessant: Durch den Kursrutsch der Wachstumsaktien sehe ich zum ersten Mal, dass sehr selektiv die Wachstumssegmente für uns attraktiv werden.

Also, die Growth-Titel bekommen Value-Charakter?

Wosol: Ja. Solche Wachstumsaktien haben eine Unterbewertung zu ihrer fundamentalen Situation bekommen. Wir haben das auch ausgenutzt und zum ersten Mal seit Auflage des Fonds im Jahr 2008 einen IT-Hardware-Titel gekauft. Wir hatten nie IT.

Was haben Sie gekauft?

Wosol: Den Halbleiterhersteller Infineon. Ein Value-Investor findet eigentlich im Wachstums- oder Qualitysegment selten Opportunitäten, weil das einfach normalerweise viel zu teuer ist. Aber wir haben diese Situation nun aktuell selektiv auch in anderen Segmenten, zum Beispiel im defensiven Konsum, der für Value-Investoren meist keine Rolle spielt. Die meisten Value-Opportunitäten gibt es ja im zyklischen Segment, seien es Industriezykliker oder Konsumzykliker. Für uns sieht es jetzt so aus, dass einerseits die klassischen zyklischen Value-Segmente unterbewertet sind; und ich bekomme noch die defensiveren oder teils die wachstumsorientierteren Segmente dazu.

Sie können also aus einer größeren Eiskiste auswählen…

Wosol: Ja, das ist natürlich zu einem gewissen Teil immer so, wenn die Volatilität steigt. Dann werden auch die Value-Opportunitäten breiter. Das war im Jahr 2020 mit Covid so oder im zweiten Quartal 2018 beim Handelskrieg zwischen den USA und China oder zu Beginn 2016 rund um die Hardlanding-Ängste in China. Das Phänomen war aber schon lange nicht mehr so breit wie jetzt. Meist werden nur die zyklischen Werte günstig und die defensiven machen eine relative Outperformance. Dieses Mal sind unsere Möglichkeiten aber breiter als in einem einfachen Konjunkturverlangsamungsszenario.

Setzt man als ausgewiesener Value-Fonds eigentlich Grenzen für die Aufnahme klassischer Growth-Titel? Wenn die Top-Ten-Positionen klassische Wachstumswerte wären, dann wäre der Charakter des Fonds ja fraglich.

Wosol: Zum einen müssen wir ja aufgrund regulatorischer Vorgaben und Portfoliokonstruktionsüberlegungen diversifizieren. Zum anderen muss man auch bedenken, dass wir Einzeltitelselektion machen und hier wählen wir immer nur das für uns beste Unternehmen eines bestimmten Endmarktes aus, das wir zur günstigsten Bewertung bekommen. Wir werden also nicht unser Portfolio mit Halbleiteraktien vollpacken, weil es drei große Produzenten in Europa gibt. Es kann nur eines das günstigste und beste sein. Das nächste Investment im IT-Bereich wäre dann kein Halbleiterunternehmen, sondern ein anderes.

Ist eigentlich das steigende Zinsumfeld die einzige Stütze für Value?

Wosol: Man kann sich auch die rein relativen Bewertungen ansehen. Die Bewertungsdifferenz zwischen Value und Growth in Europa und anderswo war schon seit einiger Zeit auf historisch niedrigsten Ständen. Solche starke Kapitalmarktanomalien haben normalerweise keine lange Dauer. Das letzte Mal, wo wir ähnliche, aber nicht annähernd so hohe, Anomalien bei der Bewertung hatten, war um die Jahrtausendwende, als die IT-Bubble platzte. Value ist so günstig wie noch nie. Was kurzfristig stören könnte, sind natürlich Rezessionssorgen. Aber der Wechsel des Zinsregimes ist ein Motor für Value-Segmente wie Banken. Das sollte sich nicht so schnell drehen.

Vielen Dank für das Gespräch. (eml)


Andreas Wosol ist beim Pariser Vermögensverwalter Amundi globaler Head of Value. Er leitet das Team von Wien aus. Unter anderem ist Wosol Hauptverantwortlicher des Flaggschiff-Fonds Amundi Funds European Equity Value. Bei Amundi Austria ist Wosol zudem Chef der Aktienstrategie im lokalen Investmentteam. In Österreich steht der Amundi Select Europe Stock, der nach der gleichen Strategie wie der Value-Fonds gemanagt wird, im Fokus. Darüber hinaus managt er auch ein institutionelles Mandat. In den Europa-Value-Portfolios verwaltet Amundi 5,6 Milliarden Euro, davon 3,8 Milliarden Euro allein im Flaggschiff-Fonds (Stand per Ende Mai).