Während die Welt geschockt auf die täglich neuen militärischen Eskalationen in der Ukraine blickt, scheinen die Kapitalmärkte die Situation auszublenden. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar waren die Kurse an den globalen Aktienbörsen stark eingebrochen. Doch es folgte ein rascher Rebound mit höheren Börsenbewertungen als zuvor.

Eine zynische Situation sei es, in der sich die Aktienmärkte momentan befinden, sagt Vincent Mortier, der kürzlich vom Stellvertreter zum Investmentchef (CIO) von Europas größtem Vermögensverwalter Amundi aufrückte. Er bleibt weiter vorsichtig. Die Sorge darüber, was noch kommt, überwiegt, erklärt er im Gespräch mit FONDS professionell ONLINE.

"Märkte nur wegen negativen Realzinses so resilient"
"Die Ukraine-Krise hat bestehende Probleme verschärft", so Mortier. Dazu gehörten die hohe Staatsverschuldung, Rohstoffknappheit und Liefermängel, die die Wirtschaft bereits seit dem Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 plagen. Dazu zähle auch die ungleiche Vermögensverteilung, deren Dramatik sich durch die Inflation verschärft.

Das große Bild sei unverändert. "Die Vorsicht in unserem Team ist sehr hoch", so Mortier, der kein bedingungsloses Signal zur Rückkehr an die Aktienmärkte sieht. Eine schrittweise Taktik sei momentan genauso ratsam wie eine Strategie, die auf Qualitätstitel mit nachvollziehbarem Geschäftsmodell und sichtbaren Renditechancen setzt. "Der einzige Grund, warum die Märkte so resilient sind, ist der aufgrund der steigenden Inflation immer weiter ins Minus sinkende Realzins. Die negative Realverzinsung unterstützt risikoreiche Assets, weil es einfach keine Alternative gibt", so Mortier, der keine fundamentale Rechtfertigung für den Rebound sieht.

Teuerung bis Jahresende bei sechs Prozent
Sorge bereitet dem Investmentchef momentan die Inflation. In Europa, so schätzen die Amundi-Experten, soll die Teuerung im Gesamtjahr 2022 auf sechs Prozent steigen. Weil gleichzeitig die Zinsen extrem niedrig bleiben, verlieren die liquiden Mittel von Sparern rapide an Wert. Der Anteil des Ukrainekrieges an der Inflation mache rund zwei Prozent aus. Der große Rest ist demnach hausgemacht.

Während die amerikanische Notenbank Fed, zwar spät aber doch, dieses Jahr bereits die Zinsen erhöht hat und Beobachter mit bis zu sieben weiteren Schritten rechnen, hat die Europäische Zentralbank EZB bisher nur in den Raum gestellt, 2022 aus den umstrittenen Anleihenkäufen auszusteigen und dann mit Zinserhöhungen zu beginnen. Das könnte ab Herbst oder auch erst im Dezember der Fall sein. "Einen klaren Fahrplan bleibt die Notenbank schuldig. Und sie hat die Inflationsprognose erst spät und nur für 2022 erhöht", kritisiert Mortier.

"Inflation ist zuerst eine Besteuerung der Armen und der Mittelklasse"
Dass die EZB bei einer derart hohen Geldentwertung so zögerlich vorgeht, sei unverantwortlich. Die Währungshüter würden die gesellschaftlichen und politischen Gefahren der Teuerung ignorieren. Sowohl in Europa als auch in den USA sei die Inflation momentan das ausschlaggebende Motiv bei Wahlen.

"Wenn wir 2022 eine Inflation von sechs Prozent haben, dann ist das zuerst eine Besteuerung der Armen und der Mittelklasse, die einen größeren Teil ihres Einkommens für die lebensnotwendigen Dinge ausgeben", betont der Amundi-Investmentchef. Dazu kommt: Wenigerverdiener, die oft in günstigeren Randlagen wohnen und mit dem Auto pendeln müssen, sind wegen der horrenden Verteuerung der Spritpreise zusätzlich belastet. "Da ist man dann nicht mit sechs, sondern eher mit 15 Prozent Inflation konfrontiert. Wer kein hohes Einkommen hat, verliert enorm an Kaufkraft. Die Ungleichheit wird sich sehr vergrößern", warnt Mortier .

Energiepreise schon im Jänner um 22 Prozent höher als 2021
Er erinnert daran, dass die Gelbwestenproteste in Frankreich im Jahr 2018 ihren Ursprung in einem Anstieg der Kosten für fossile Brennstoffe hatten – insbesondere einer Benzin- und Dieselsteuer von drei beziehungsweise sieben Cent pro Liter. Dabei sei die Teuerung damals weniger drastisch gewesen als heute, so Mortier. Ein Blick auf die Eurostat-Zahlen zeigt: Bereits im Jänner 2022, also noch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, lag die Energiepreissteigerung EU-weit zum Vorjahr bei 22 Prozent. "Die EZB lebt in einer Art Verneinung der Situation", so Mortier.

Notenbank-Chefin Christine Lagarde hätte – wenn schon nicht den Hauptrefinanzierungszinssatz – wenigstens den Einlagenzinssatz, zu dem die Banken Überschussliquidität bei der EZB parken können, von minus 0,50 Prozent auf null setzen sollen. Das würde bereits den Euro stützen, so Mortier. Der Euro ist momentan unter 1,10 US-Dollar wert. Der faire Wert liege eher bei 1,15 oder 1,20 Dollar: "Ein großer Teil der Inflation ist importiert, weil wir mit einem schwachen Euro wichtige in US-Dollar denominierte Güter wie Energie, Lebensmittel oder Metalle zahlen müssen".

"Den Wechselkurs-Faktor nicht ignorieren"
"Wenn der Euro um fünf Prozent aufwertet, kostet uns das fünf Prozent weniger. Das wäre ein Weg, um gegen die Inflation vorzugehen", so Mortier. Dass sich die EZB, deren Mandat in der ursprünglichen Auslegung nur die Geldwertstabilität ist, auf den Standpunkt stellt, sie sei nicht zuständig für Wechselkurse, sei nicht gerechtfertigt: "Als ein Mittel, um die Inflation zu bekämpfen, kann man den Wechselkurs-Faktor nicht ignorieren. Ein Teil der Teuerung kommt eben davon", argumentiert Mortier.

Er warnt vor zahlreichen weiteren Inflationstreibern: die Erhöhung der nationalen Wehrbudgets aufgrund der russischen Aggression, die milliardenschweren Ausgleichszahlungen, die die Staaten ihren Bürgern für steigende Energiepreise gewähren, sowie den Ausbau von Alternativenergiequellen, der nicht erst seit dem Krieg sondern wegen der drohende Klimakatastrophe nötig ist. "Die grüne Transition trägt in den kommenden drei bis vier Dekaden jährlich 0,5 bis ein Prozent zur Inflation bei. In den Zentralbankprognosen ist das überhaupt nicht inkludiert", kritisiert er. Den Währungshütern gehe es offenbar darum, die hohe Verschuldung der Staaten weiter zu billigsten Konditionen zu finanzieren.

Hyperinflation oder Staatspleiten
Doch wie kommen die Staaten angesichts bereits bestehender hoher Verschuldungsquoten aus der Billiggeldpolitik heraus? Es bestünden zwei Möglichkeiten, so Mortier. Eine davon: hohe Inflation und daraus folgend ein hohes nominales, also nicht um die Inflation bereinigtes, Wirtschaftswachstum. "Dann verringern sich die Schulden als Anteil des Bruttoinlandsprodukts mechanisch. Doch ein Ausstieg aus einem solchen Modell ist schmerzhaft, eine große Rezession wäre die Folge", sagt der Ökonom. Eine andere Option: "Wir vergessen, dass fast alle Staaten in der Vergangenheit bereits Ausfälle hatten", so Mortier. Kalkuliert Amundi damit, dass ein Staat pleite geht? "Nicht kurzfristig. Aber man kann es nicht ausschließen", lautet die Antwort.

Bei Amundi rechnet man damit, dass sich die Konjunktur im laufenden Jahr deutlich abkühlt, nicht nur wegen des Krieges, sondern auch wegen der Angebotsschwierigkeiten – die Industrie hat bekanntlich zunehmend Probleme, Energie und andere Produktionsmittel (Holz, Rohstoffe, Metalle, IT-Teile usw.) zu bekommen. War die Euroraum-Wirtschaft vergangenes Jahr noch um rund 5,3 Prozent gewachsen, sollen es laut Amundi-Schätzung 2022 nur noch zwei Prozent sein. Wobei es ohne den Krieg in der Ukraine 1,5 Prozent mehr sein könnten.

Komplette Flaute
Jedenfalls dürfte für den Rest des Jahres komplette Flaute herrschen. Das gesamte 2022er-Wachstum habe bereits in den ersten Monaten stattgefunden. "Von April bis Jahresende sehen wir kein Wachstum mehr", so Mortier. Alle Augen seien nun darauf gerichtet, ob Europa das kommende Jahr in der Rezession startet. (eml)