FONDS professionell Österreich, Ausgabe 3/2024

Europa zu. Eine akkommodierende Geld- politik ist dringend vonnöten. Wobei die EZB ja bereits im Juni und damit schon vor den USA begonnen hat, die Zin- sen zu senken. Das ist richtig, allerdings werden weitere Zinssenkungsschritte durch die EZB fol- gen müssen – allein schon um nicht ins Hintertreffen zu geraten angesichts der jüngsten Ankündigungen von Fed-Chef Je- rome Powell. Er hat nicht ohne Grund beim Treffen der weltweiten Notenbanker in Jackson Hole deutliche Signale ausge- sendet, wonach es noch im September zu einer ersten und dann wahrscheinlich kräf- tigen Zinssenkung in den USA kommen wird, der bis Ende 2024 und im kommen- den Jahr noch weitere folgen werden. Zweifeln Sie an dem von der Geldpolitik mantraartig vorgetragenen Bekenntnis, man agiere stets datengetrieben? Auf die US-Notenbank trifft das durchaus zu. Das hat Jerome Powell gerade erst wie- der unter Beweis gestellt. Als die amerika- nischen Arbeitsmarktdaten sich deutlich zu verschlechtern begannen, hat er nach vorn blickend kaum gezögert, zu signalisieren, die Inflation bewege sich ganz offensicht- lich in die richtige Richtung, deshalb kön- ne man sich künftig durch entsprechende Zinssenkungen um die Stützung des Ar- beitsmarktes kümmern. Das ist aus meiner Sicht eine kluge, weil vorausschauende Po- litik. Auch die EZB spricht zwar immer davon, ihre Entscheidungen seien vor allem eines: datengetrieben. Bei genauerem Hin- sehen aber fällt auf, dass Christine Lagarde eher eine Art Politik mit dem Blick in den Rückspiegel verfolgt, die sich viel zu stark an ein punktgenaues Erreichen der Ziel- marke von zwei Prozent bei der Inflation klammert, statt schon dann zu agieren, wenn die Preise sich stetig in diese Rich- tung zu bewegen beginnen. Der mutige Blick nach vorn fehlt mir bei der EZB. Gehört eventuell sogar die Zielmarke von zwei Prozent auf den Prüfstand? Warum eigentlich nicht? Renommierte Ökonomen wie Olivier Blanchard oder Jason Furman, Wirtschaftschef der „New York Times“, haben aus meiner Sicht inter- essante Vorschläge dazu gemacht, weil es gute Gründe dafür gibt, die Zielmarke der Notenbanken eher bei drei statt bei zwei Prozent anzusetzen. Damit sind wir wieder beim Anfang unseres Gesprächs, dem The- ma eines vollkommen neuen wirtschaftli- chen Regimes, in dem wir uns befinden. Was aber wären die Folgen eines Drei-Pro- zent-Ziels bei der Inflation? Aus den eingangs genannten Gründen einer umfassenden Neuaufstellung der Welt kön- nen wir nicht mehr erwarten,weiterhin die Disinflation aus China und Asien insge- samt importieren zu können, wie das in den vergangenen 20 Jahren der Fall war. Etwas Ähnliches haben wir in den siebzi- ger Jahren als Folge des Ölpreisschocks er- lebt. Zum einen sind die Löhne gestiegen, zum anderen haben höhere Preise dafür gesorgt, dass sich ganze Sektoren – sowohl in Industrie wie auch bei Dienstleistungen – zum Teil sehr schnell an das neue Preis- regime angepasst haben. Gleichzeitig sind einige Marktteilnehmer verschwunden, und ganz neue Anbieter sind entstanden. Vielleicht wird ein höheres Preisniveau auch diesmal helfen, die notwendige An- passung schneller und besser zu schaffen. Auch wenn sich derzeit niemand wirklich vorstellen kann, welche Folgen ein höheres Inflationsziel der Notenbanken tatsächlich haben würde – zumal wir nicht sicher sein können, dass sich dem alle anschließen würden. Den Versuch wäre es aber wert. Danke für das Gespräch. HANS HEUSER FP KURZ-VITA: Philippe Waechter Nach dem Studium der Ökonomie und anschließender Pro- motion trat Philippe Waechter bereits 1988 in die Dienste des heutigen Natixis-Konzerns und dessen Vorläufer. Seit 2018 ist er Chefökonom der Tochtergesellschaft Ostrum Asset Management. Waechter hat zudem einen Lehrauftrag in Ökonomie an der École Normale Supérieure Paris-Saclay. » Christine Lagarde verfolgt eher eine Art Politik mit dem Blick in den Rückspiegel. « Philippe Waechter, Ostrum AM FOTO: © FRANÇOIS DABURON fondsprofessionell.at 3/2024 97

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