FONDS professionell Österreich, Ausgabe 2/2022

malität in den Beziehungen zu Russland zurückzukehren. Hätten wir vor fünf Monaten über vollkom- men andere Themen gesprochen? Abgesehen vom Kriegsgeschehen, das die meisten Beobachter zu Beginn des Jahres noch für unwahrscheinlich gehalten haben, hätten wir bestimmt über Themen disku- tiert, die auch heute noch gültig sind, die sich aber inzwischen erheblich verschärft oder beschleunigt haben. Allem voran eine deutliche Verlangsamung des Wachstums und eine möglicherweise eintretende Rezession. In Europa, insbesondere in Deutschland und Italien, befinden wir uns nach unseren Daten bereits in einer rezes- siven Phase. Hier stellt sich eher die Frage, ob es ein kurzlebiger oder doch ein tief- greifender Einbruch sein wird. Gilt das nicht in Ansätzen auch für die USA? Auch dort ist das Wachstum anfälliger geworden. Ein Rückgang war zwar auch schon vor sechs Monaten, um nicht zu sagen, vor einem Jahr zu beobachten, aber inzwischen geht es schneller bergab. Paral- lel dazu steigt auch dort die Inflation, nicht nur aufgrund der Energiepreise, auch auf- grund einer zunehmenden Teuerung bei Nichtedelmetallen und Lebensmitteln.Wir gehen – sowohl in den USA wie auch in Europa – sehr viel schneller als erwartet in Richtung einer Stagflation. Wie drückt sich das in Zahlen aus? Wir gehen von weiteren Überraschungen bei der Inflationsentwicklung aus und erwarten, dass sich die Teuerung in den nächsten drei Jahren auf einemNiveau von drei bis vier Prozent einpendeln wird. Gleichzeitig erwarten wir ein nur noch geringes Wachstum zwischen null und zwei Prozent. Damit wären wir mittendrin in einem vollkommen neuen Regime der konjunkturellen Entwicklung. Noch sind wir bei einstelligen Inflations- raten, gleichzeitig agieren Zentralbanken unabhängiger, und eine steuerliche Unter- stützung schützt die Schwächsten. Müssen wir uns dennoch auf ein Szenario wie in den siebziger Jahren gefasst machen? Auf die Frage, ob die Zentralbanken wirk- lich unabhängig agieren, können wir später gern noch zurückkommen. Was die Infla- tion in Europa betrifft, ist die EZB insofern in einer unglücklichen Situation, als der Großteil der Inflation importiert wird und ein schwacher Euro den Preisanstieg zusätz- lich verstärkt. Denn bisher sind die Preise nur sehr geringfügig aufgrund von höhe- ren Löhnen gestiegen. Das führt zu dem Problem, dass sich vor allem Güter des täglichen Bedarfs wie Transport, Energie, Lebensmittel und Dienstleistungen ver- teuern,während Löhne und Gehälter nicht wirklich stark gestiegen sind … … was natürlich unweigerlich den Kauf- kraftverlust zusätzlich verstärkt. Und das trifft vor allem den einkommens- schwächeren Teil der Bevölkerung beson- ders hart. Dadurch wird die Inflation zu einem politischen Thema. Eindrücklich beobachten lässt sich das aktuell in Frank- reich, wo wir zum Zeitpunkt unseres Ge- sprächs gerade zwischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stehen und wo die wachsende Ungleichheit zu einem breit diskutierten Streitpunkt geworden ist. » Wir gehen – sowohl in den USA wie auch in Europa – sehr viel schneller als erwartet in Richtung einer Stagflation. « Vincent Mortier, Amundi fondsprofessionell.at 2/2022 143

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